„Ludgerus war keiner, der wegläuft“

Der Essener Domkapitular Christian Böckmann kritisiert, dass in aktuellen kirchenpolitischen Debatten historisch nicht sauber argumentiert wird. „Wenn angeführt wird, das 19. Jahrhundert und seine Theologie sei das einzig Wahre, weil es tridentinisch sei, ist das schon eine Verkürzung“, sagte Blökmann im Interview dem Neuen Ruhrwort. „Im 19. Jahrhundert ist das Tridentinum in seiner Gänze gar nicht aufgegriffen und rezipiert worden.“ Anlass für das Gespräch war das am Ludgerusfest in Essen-Werden.
Der Essener Domkapitular Christian Böckmann kritisiert, dass in aktuellen kirchenpolitischen Debatten historisch nicht sauber argumentiert wird. „Wenn angeführt wird, das 19. Jahrhundert und seine Theologie sei das einzig Wahre, weil es tridentinisch sei, ist das schon eine Verkürzung“, sagte Blökmann im Interview dem Neuen Ruhrwort. „Im 19. Jahrhundert ist das Tridentinum in seiner Gänze gar nicht aufgegriffen und rezipiert worden.“ Anlass für das Gespräch war das am Ludgerusfest in Essen-Werden.

Christian Böckmann –Foto: Bistum Essen

Essen/Mülheim – Den Abschluss des Ludgerusfestes bildet am Sonntag die Vesper mit Rückführung des Schreins. Die Predigt hält Domkapitular Christian Böckmann, Pfarrer von St. Barbara und St. Mariä Himmelfahrt in Mülheim an der Ruhr. Im Interview spricht er über den Heiligen Ludgerus als einen Zeugen über die Fähigkeit der Kirche zur Weiterentwicklung und warnt vor historisch unsauberen Argumentationen in kirchpolitischen Fragen.

Herr Böckmann, wir sprechen gut eine Woche vor dem Ludgerusfest. Steht ihre Predigt für Sonntag schon?

Christian Böckmann: Nein, noch nicht, es arbeitet sehr in mir. Ich brauche immer eine gewisse Aktualität, vielleicht auch ein wenig Druck.

Wie kommen Sie zu Ihren Predigten?

Böckmann: Das entsteht bei mir oft durch scheinbare Zufälligkeiten, Begegnungen, Gespräche, Gedanken, die auftauchen. Mit Ludgerus habe ich mich schon vor Jahren sehr beschäftigt, als Arnold Angenendts Buch Liudger. Missionar – Abt – Bischof erschienen ist. Darin lese ich immer wieder sehr gerne, weil Angenendt so viele Hintergründe zusammenbindet. Das werde ich jetzt auch zurate ziehen. Es ist schon erstaunlich, wie mache Fragen sich im Laufe der Geschichte wiederholen können. Wenngleich die Zeit des heiligen Ludgerus schon so weit weg ist, ähnelt sie unserer Zeit, weil auch wir mit vielen Veränderungen konfrontiert sind. 

Ludgerus bietet viele Anknüpfungspunkte …

Böckmann: Man muss sich einfach verabschieden von der Vorstellung, dass man alles sagen kann. Letztlich geht es um ein oder zwei Gedanken. Das ist das Entscheidende. Im Moment bin ich noch auf der Suche nach der biblischen Lesung.

Bischof Georg Bätzing hat im vorigen Jahr in Bezug auf Ludgerus gesagt, dass die christliche Missionsbewegung ihr Veränderungspotential kaum zur Geltung hätte bringen können, „wenn sie nicht auf die Kultur zugegangen wäre, die sie zu revolutionieren antrat“. Das hatte einen sehr starken kirchenpolitischen Bezug.

Böckmann: Ja, Bätzing hat damit auch etwas aufgegriffen, was von Papst Franziskus nachgeschärft worden ist: Benedikt XVI. hat sinngemäß in seiner Ansprache anlässlich der Christanisierung Süd- und Lateinamerikas formuliert, dass die Völker immer schon auf Christus gewartet haben und die Missionare das Christentum dahin gebracht haben. Von Franziskus ist das so ergänzt worden, dass die Kirche selber auch davon gelernt hat. Das Stichwort der Fremdprophetie könnte man da anwenden: dass auch die Kirche sich in der Summe weiterentwickelt. Wenn in den Debatten, die wir derzeit in der Kirche erleben – in diesen Veränderungszeiten – argumentiert wird, jede Neuerung der Lehre sei völlig ausgeschlossen, dann ist das – wenn man das Leben von Ludgerus betrachtet – vollkommener Unsinn. Die Kirche hat sich immer verändert und die Lehre hat sich immer weiterentwickelt.

Der Blick in die Vergangenheit ist immer nur ein Ausschnitt. Die Frage lautet ja,  warum aus 2000 Jahren der Kirchengeschichte die Tradition des 19. Jahrhunderts zu bewahren wäre.

Böckmann: Das sind ja in der Tat historisch nicht saubere Argumentationen: Wenn angeführt wird, das 19. Jahrhundert und seine Theologie sei das einzig Wahre, weil es tridentinisch sei, ist das schon eine Verkürzung. Im 19. Jahrhundert ist das Tridentinum in seiner Gänze gar nicht aufgegriffen und rezipiert worden. Es gibt spannende Veröffentlichungen zur Theologie des Ersten Vatikanum … Aber das wäre für eine Predigt in der Vesper am Ludgerusfest sicherlich eine Überforderung, weil da eher eine mehrstündige Vorlesung nötig wäre (lacht). Aber diese Stichworte sind spannend.

Die wohl größte Errungenschaft der Zeit des Ludgerus’ ist übrigens, dass die Vorstellung der Auferstehung der Toten eine Mangelgesellschaft beendet: Man hat die Güter nun für die Zukunft gerettet, während vorher alle Reichtümer mitbegraben wurden. Nun wurde das Vermögen gestiftet für die Gründung von Schulen oder Spitälern. Das hat den nachfolgenden Generation geholfen. Damit wären wir bei unseren heutigen Fragen zur Nachhaltigkeit. Vor einer Generation hat man noch gesagt: Wir strengen uns an, damit unsere Kinder es einmal besser haben. Heute geht es darum, dass die Kinder vielleicht noch den Lebenstandard halten können. Das ist auch eine Form von Mangelgesellschaft, in die wir weltweit hereinschlittern. Die Frage wäre: Was ist darin eigentlich der Beitrag des Christlichen?

Das 19. Jahrhundert prägt heute noch in vielerlei Hinsicht die Wahrnehmung der Kirche. Wie erklären Sie sich das?

Böckmann: Das ist eine gewisse Form der Romantik, auch äußerlich: Im 19. Jahrhundert waren ja schon in der Architektur von Kirchen unwahre Formen, man hat sich mit Neogotik und Neoromanik eine heile Welt vorgespielt, die es so nie gab. In der Industrialisierung waren viele Menschen entwurzelt, und da war Kirche ein Stück heile Welt. Aber das birgt auch mitunter die Gefahr, dass man damit die Realität leugnet. So etwas erleben wir heute auch wieder: Man flüchtet sich in romantische Vorstelllungen, um eine heile Welt zu haben, und Wunden zu heilen, um es etwas pathetisch zu sagen. Das ist ein Reflex, den viele Menschen haben. Auf der anderen Seite passt das zum eigenen Leben überhaupt nicht, das hat auch viel mit dem Verarbeiten von Scheitern zu tun.

Wie kommt es dazu, dass sehr konservative Katholiken anderen sogar das Christsein absprechen? Wie argumentiert man da?

Böckmann: Ich halte das für eine Anmaßung, das betrifft auch Amtsträger. Man kann da immer ganz alte Zeugen anführen: Augustinus etwa sagt, dass man „im Wesentlichen Einheit, im Zweifelhaften Freiheit und über allem Liebe“ haben soll. Das ist für mich eine Kategorie, die zählt.

Mein Eindruck ist, dass Augustinus eher verkürzt als Kronzeuge der Einheit wiedergegeben wird.

Böckmann: Ja, aber dann hat man ihn nicht gut studiert. Augustinus hat so viele Widersprüche in sich vereint. Er kennt auch Brüche im Leben. Das ist ja nicht schädlich.

Könnte uns auch der Heilige Ludgerus helfen?

Böckmann: Da bin ich mir im Konkreten noch nicht ganz sicher. Auf jeden Fall war Ludgerus keiner, der wegläuft, sondern einer der sich den Problemen gestellt und nach Lösungen gesucht hat. Ohne so eine Haltung ist das missionarische Christentum tot, und das ist mit ein Grund dafür, warum das Christentum zurzeit mancherorts stirbt, wenn es in diesem Sinne nicht mehr missionarisch ist, sich nicht für andere Konzeptionen oder Meinungen interessiert, keine Kraft mehr hat, darauf zuzugehen und sich somit auch selber verändern zu lassen.

Sie haben über Änderungen, Entwicklungen und Brüche gesprochen. Sie haben dem Sevitenorden angehört und sind inzwischen seit zehn Jahren Priester des Bistums Essen. Warum tritt man in eine Ordensgemeinschaft ein, warum tritt man aus?

Böckmann: Das waren ganz komplexe Entscheidungswege. Der Austritt ist keine Kleinigkeit, sondern ein großer Schritt, weil man grundsätzliche Lebensentscheidungen in Frage stellt. Der Vergleich hinkt, aber es ist auch ein bisschen wie bei einer Scheidung. Das war ein langer Weg, der bei mir allerdings ziemlich konfliktfrei gelaufen ist. Es ist nicht so, dass ich mich mit meinen Mitbrüdern verkracht hätte, sondern es war meine Erkenntnis, dass es ist nicht mehr mein Weg, mein Leben war.

Sie sind nun Pfarrer für zwei große Pfarreien. Das ist eine Position im Spannungsfeld zwischen Administration und Seelsorge. Ist das zum Schaden für die Seelsorge?

Böckmann: Ich würde dieses Gegeneinander von Verwalten und Seelsorge in Frage stellen. In allem, was ich tue bin ich Theologe, Priester, Seelsorger – in allen Gremien, in denen ich sitze. Da bin ich nicht Kaufmann oder Prozessentwickler. Ich bleibe als Theologe da, auch wenn ich in einer Leitungsaufgabe stehe. Ich persönlich bin da sehr bodenständig und versuche, regelmäßig in jeder Kirche der Pfarreien in Gottesdiensten präsent zu sein. Das ist nicht einfach, aber es bereichert mich auch. Wir haben in Mülheim eine sehr große soziale Bandbreite von sehr wohlhabenden bis sozial prekär lebenden Menschen. Ich erlebe das für mich als positiv herausfordernd. 

Ein Pfarrer sollte seine Pfarrei also regelmäßig gewissermaßen ablaufen?

Böckmann: Ja, und er braucht dafür auch Weggefährten – Christsein geht nicht allein. Ich bin auch kein Typ für einsame Entscheidungen, davon halte ich nichts, weil man dann immer in der Gefahr ist, dass man den eigenen Vogel zum heiligen Geist erklärt. Es geht nur im Austausch, auch im Miteinander-Ringen und Konflikte-Aushalten.

Die Pfarreientwicklungsprozesse haben zu Überforderungen für alle und damit auch zu Konflikten geführt.

Böckmann: Das wir überfordert sind, würde ich auf allen Ebenen bestätigen: wirtschaftlich und pastoral. 

In der katholischen Kirche wird gerade viel über Synodalität gesprochen. Braucht es aus Ihrer Sicht so etwas wie ein Kirchenparlament?

Böckmann: Beteiligung an sich führt allein noch nicht zu besseren Entscheidungen, sondern bedarf immer einer inneren Haltung. Synodalität setzt für mich immer voraus, dass ich eine Fähigkeit zu Resonanz habe, also dass man nicht mit derselben Meinung aus einer Begegnung herausgeht, wie man hineingegangen ist, und einer hat sich am Ende durchgesetzt. Das Kapitel, die Versammlung einer Ordensgemeinschaft zum Beispiel ist die eigentliche Autorität, wenn sie zusammenkommt. Das ist auch mein Ideal, das ist nicht mit einem Parlament zu vergleichen, weil ein Parlament beständig arbeitet.

Bleiben wir beim Wandel: Wie beurteilen Sie die Debatte um Zölibat und Frauenweihe?

Böckmann: Ich bin relativ gelassen und zuversichtlich. Ich bin mit meiner Lebensform zufrieden, kenne aber auch ganz viele, die ich mir sehr gut im priesterlichen Dienst vorstellen könnte, die in Familie und Ehe leben. Mir sind auch Frauen begegnet, von denen ich fest glaube, dass sie eine priesterliche Berufung haben. Dafür offen zu sein und es als Anstoß zu nehmen, würde uns als ganze Kirche weiterbringen.

Über diese Themen zu sprechen ist wesentlich leichter geworden in den letzten zehn Jahren …

Böckmann: … ja, und dafür bin ich sehr dankbar. Wir können über Themen reden, bei denen alle früher Probleme bekommen hätten – auch die Bischöfe. Es ist ein Gespräch in Gang gekommen. Es galt zu allen Zeiten, dass das Heil der Seele das erste Gesetz und das Wichtigste ist. Wenn dieses Heil in Gefahr ist, muss man alles andere außer Acht lassen. Deswegen hat übrigens auch schon ein sehr konservativer Bischof wie Joachim Meißner zu Zeiten der Tschechoslowakei im Geheimen verheiratete Männer geweiht, weil das Leben der Kirche durch kommunistische Verfolgung sonst zu Ende gegangen wäre.

Interview: Boris Spernol