Der Historiker Andreas Wirsching zieht im Interview mit dem Neuen Ruhrwort eine Zwischenbilanz der Edition der Tagebücher des Kardinals Michael von Faulhaber, die vor zehn Jahren begonnen hat und einen widersprüchlichen Menschen zeigt.

Michael von Faulhaber im Jahr 1938. –Foto Erzbischöfliches Archiv München
Im Januar 2014 haben Wissenschaftler des Münchner Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster damit begonnen, die Tagebücher des zu seiner Zeit bedeutenden Münchener Erzbischofs Michael von Faulhaber zu entziffern und in einer Online-Edition zu veröffentlichen. Das Projekt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wird, soll in Kooperation mit dem Erzbischöflichen Archiv in München neue Einblicke in die jüngere Kirchengeschichte ermöglichen. Im Interview mit dem Neuen Ruhrwort zieht IfZ-Direktor Prof. Dr. Andreas Wirsching eine Zwischenbilanz.
Herr Wirsching, wenn Historiker Quellen für ihre Forschung heranziehen, ist es für sie wichtig zu wissen, zu welchem Zweck diese ursprünglich verfasst wurden. Wer war denn der Adressat der Faulhaber-Tagebücher?
Wirsching: Wir edieren die sogenannten Besuchstagebücher Faulhabers plus ergänzenden Beiblättern. Er hat auch noch andere Tagebücher geführt, diese Tagebücher sind aber die wichtigsten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er das für seine eigene Gedächtnisstütze geschrieben hat, da lässt sich kein anderer Adressat ausmachen. Das ist kein Tagebuch, wie wir es aus anderen Kontexten kennen, wo der Autor im Hinterkopf hat: das wird eine Traditionsquelle und für die Nachwelt aufbereitet …
… wie etwa bei NS-Propagandaminister Joseph Goebbels …
Wirsching: … ja, Goebbels ist da ein klassisches Beispiel. Das ist bei Faulhaber sicher nicht der Fall. Er verzeichnet mit unglaublich großer Akribie, wenngleich nicht Vollständigkeit, wer ihn besucht, mit wem er spricht und gibt auch sehr knapp den Inhalt der Gespräche an. In den Beiblättern ist das meistens ein bisschen ausführlicher. Diese Tagebücher sind so etwas wie ein Skelett seiner Biografie, also seiner Amtstätigkeit als Kardinal von München und Freising 1917 bis zu seinem Tod 1952. Und insofern stellen sie eine einzigartige Quelle dar.
Sie veröffentlichen die Tagebücher jahrgangsweise, springen dabei aber durch die Jahrzehnte. Warum?
Wirsching: Wir wollten nicht ausschließlich mit der NS-Zeit anfangen, weil die Gefahr besteht, dass man seine Tätigkeit reduziert auf seine Rolle im NS-Regime. Andererseits ist das schon eine sehr wichtige Phase. Uns war wichtig, auch andere Zeitschnitte zu machen, um ein Bild davon zu bekommen, wie sich dieses Tagebuch entwickelt. Nicht nur 1933, sondern auch 1918/19 und die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sind bedeutende Umbruchzeiten. Das hat sich für uns bewährt. Wären wir nur chronologisch vorgegangen, hätte es lange gedauert, bis wir auch über die anderen Phasen Erkenntnis gewonnen hätten. So haben wir mit Punkten begonnen und dann langsam die Lücken geschlossen
Was sind aus Ihrer Sicht die bislang zentralen Erkenntnisse oder Themenfelder aus der Arbeit an der Edition?
Wirsching: Also da kann man eine allgemeine Antwort und einige spezifische Antworten geben. Die allgemeine lautet, dass man die Gesamtpersönlichkeit und die gesamte Person in ihrer Amtsführung, noch sehr viel besser kennenlernt, als es aufgrund der bisher bekannten Quellen und der relativ geringen Forschungsliteratur der Fall war. Faulhaber hatte auch eine komplexe Wirkung. Er war ein sehr intensiver Seelsorger. Das kommt aus diesen Tagebüchern sehr gut heraus. Er war jemand, der sehr stark, man kann sagen als homo religiosus, aus Analogien der Bibel gelebt hat. Dann war er ein für seine Zeit bedeutender Prediger, der damit in München einen ungeheuren Einfluss hatte. Auch das kann man in den Tagebüchern immer wieder reflektiert sehen.
Und dann ist da natürlich seine weltanschauliche und politische Rolle. Auffällig ist seine große Feindschaft gegenüber der Demokratie und gegenüber der Weimarer Republik im Besonderen, die für ihn für das Aufkommen des Bolschewismus und für den Sittenverfall, was immer man darunter genau versteht, steht und für ihn eine Staatsform und Regierungsweise ist, die sich von Gott abgewandt hat. Insofern, war 1918 für ihn die viel tiefere Zäsur als 1933.
Die Tagebücher offenbaren viel über seine Emotionen und über seine eigene Befindlichkeit. Und dann gibt es Einzelpunkte, zum Beispiel, dass er schon ziemlich früh im Zweiten Weltkrieg von Massenerschießungen und dem Judenmord an der Ostfront wusste. Die Realität des Holocaust war auch im Katholizismus schon relativ früh so etwas wie ein „offenes Geheimnis“, wie man es in der Forschung genannt hat.
Aktive Hilfe für deportierte Juden hat Faulhaber abgelehnt?
Wirsching: Ja, genau. Verzweifelte Angehörige haben sich etwa mit der Frage, „ob gar nichts zu machen sei“ an Faulhaber gewandt, der dann in seinem Tagebuch knapp notiert: „leider nicht“. Faulhaber galt ja als Judenfreund, und zwar interessanterweise schon vor 1933: So wandte er sich 1923 öffentlich gegen pogromartige Übergriffe gegen Juden in München unter Gustav von Kahr und auch gegen den Versuch der Ausweisung von Ostjuden. Dann hielt er im Dezember 1933 seine berühmten Adventspredigten, in denen er das Alte Testament als göttliche Offenbarung verteidigte gegenüber den Versuchen, eine deutsche „arische“ Religion einzuführen. Nach 1945 hatte er eine Reihe jüdischer Gesprächspartner und er erhielt auch Dankesbriefe aus aller Welt.
Wenn man aber genau hinschaut, das finde ich wichtig, dann hält sich Faulhabers Judenfreundschaft in recht engen Grenzen. Das alte Israel und das Alte Testament waren für ihn eine für das Christentum wichtige Überlieferung. Für die zeitgenössischen Juden setzte er sich aber nur dann ein, wenn es sich um sogenannte nichtarische Christen handelte, die nach der NS-Gesetzgebung natürlich als Juden galten, aber eben getaufte Christen waren. Da war Faulhaber konsequent. Die Taufe ist das Entscheidende.
Faulhaber hatte immer vermeintlich Wichtigeres zu tun, als sich tatsächlich für die Juden einzusetzen, wie das für die katholische Amtskirche insgesamt galt. Faulhaber war definitiv kein Rassist, aber man sollte ihn auch nicht umdrehen und sagen, er sei ein großer Held gewesen.
Faulhaber hat Adolf Hitler auf dem Obersalzberg besucht. Hat er zwischen dem Regime und dem Führer differenziert?
Wirsching: Dafür hätte ich keinen Anhaltspunkt. Was aber für Faulhaber durchaus typisch ist – noch stärker finden wir das bei Kardinal Adolf Bertram, dem Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz –, ist die Annahme, man könne mit Hitler direkt eine Art Deal machen in dem Sinne, dass man auf Hitler persönlich Einfluss gewönne, damit man bestimmte Dinge abschwächen könnte. Das ist bis in die 1940er-Jahre immer noch eine Illusion der Amtskirche gewesen. Hitler wird als die legitime Obrigkeit gesehen, der man auch Gehorsam schuldet und mit der man im Idealfall von gleich zu gleich irgendwie verhandeln könnte.
Reflektiert er in seinen Tagebüchern seine Einstellung oder sein Verhältnis zu den anderen Bischöfen?
Wirsching: Da darf man nicht zu viel erwarten. Er ist sicherlich in einem rechten Mittelbereich der Bischofskonferenz angesiedelt, der definitiv nicht in öffentliche Opposition zum Regime gehen will. Er reflektiert insofern, als er sagt, es sei taktisch unklug, zu viel zu protestieren. Er hat große Sorge davor, dass es zu einem „Kulturkampf“ wie im Kaiserreich kommen könnte. Deswegen: Nicht zu stark provozieren, nicht zu stark in die Öffentlichkeit gehen, wenn dann informelle Kanäle, wenn es geht, bis zu Hitler selber nutzen und nicht auf Konfrontationskurs gehen. Also, da ist er zurückhaltend, vorsichtig, ängstlich oder auch feige, das kann man dann interpretieren. Nach außen ist er ein Taktiker. Das gilt auch für die Enzyklika Mit brennender Sorge von 1937, für die Faulhaber den Entwurf verfasste.
Was man feststellt, ist eine sehr weitgehende Selbstreferenzialität des Katholizismus bzw. der Amtskirche. Das ist schon ziemlich extrem. Es gibt auch fast keine Kontakte zu Protestanten. Faulhaber agiert vollständig in diesem Subsystem Katholische Kirche. Das ist das Entscheidende, das zählt. Das ist auf der einen Seite beeindruckend, weil der Katholizismus ein sehr vielgestaltiges Gebilde ist, aber es ist auch frustrierend zu sehen, wie geradezu eine Blindheit entsteht gegenüber dem, was in der Welt passiert. Das ist aber die Schwäche beider christlichen Kirchen.
Faulhaber wird in der bisherigen Forschung als widersprüchlich wahrgenommen. Dieser Eindruck wird durch die Edition der Tagebücher also weiter verstärkt?
Wirsching: Ja, das würde ich so unterstreichen. Und er wird als Gesamtperson noch komplexer, die über die Reduktion auf seine politische Rolle hinausgeht, die er ja subjektiv gar nicht annehmen wollte – er hat sich immer als unpolitisch bezeichnet, was natürlich grotesk naiv ist; ein Kardinal kann nicht unpolitisch im politischen Raum agieren. Er hat aber sehr viele andere Rollen oder Tätigkeitsprofile, die bisher wenig bekannt sind. Als Theologe ist er sicherlich nicht so bedeutend gewesen, aber als aus der biblischen Offenbarung lebender Christ ist er schon bedeutsam oder insbesondere als Seelsorger. Das wird alles durch die Tagebücher viel deutlicher.
Wir sollten die Person Faulhabers, wie sie einem auch in diesen Tagebüchern entgegentritt, nicht auf seine politische Aktivität und schon gar nicht nur auf den Nationalsozialismus reduzieren. Da ist sehr viel mehr Reichtum und Vielfalt des Katholizismus. Das kommt wirklich durch dieses Tagebuch sehr gut zum Ausdruck. Allein schon die Kommunikationsleistung – wie viele Leute er empfangen hat und mit wie vielen er gesprochen hat, das ist beeindruckend und das hat man vorher so nicht gewusst. Das ruft alles nach mehr Faulhaber-Forschung, die aber nicht ganz einfach ist, weil es einfach unglaubliche Quellenmassen sind. Allein schon sein Nachlass ist riesig. Also das ist sicherlich eine große Forschungsbaustelle.
Das Editionsprojekt läuft noch zwei Jahre. Wie gut liegen Sie im Zeitplan, und wie geht es dann weiter?
Wirsching: Unsere interne Kontrollampel steht noch auf grün, aber wir müssen uns sehr ranhalten, dass bis Ende 2025 auch wirklich alles fertig ist. Ob es für weiterführende Vorhaben noch eine Anschlussfinanzierung geben wird, kann ich noch nicht sagen. Ich bin aber überzeugt, dass die Tagebücher eine ganze Menge an neuen Forschungen inspirieren werden. Das andere ist: Faulhaber verfasste seine Tagebücher und Beiblätter in der Kurzschrift Gabelsberger, die nur noch wenige Experten entziffern können und die von uns erst gelernt werden musste. Wir haben hier deshalb ein Kompetenzzentrum geschaffen, das auch über das Faulhaber-Projekt hinaus einen wichtigen Beitrag zur Bewahrung dieser Kulturtechnik leisten kann.
Interview: Boris Spernol
Die Edition der Tagebücher des Münchner Kardinals Michael von Faulhaber lässt sich online aufrufen.