Welche Bedeutung kommt den katholischen Verbänden in Kirche und Gesellschaft zu? Vor allem aber: Welche Zukunft haben sie? Diesen Fragen geht der Autor und Kommunikationsberater Heinrich Wullhorst (56) in seinem Buch „Leuchtturm oder Kerzenstummel“ nach. Lisa Mathofer sprach für das Neue Ruhr-Wort mit dem gebürtigen Gelsenkirchener, der heute in Duisburg lebt, im Interview über seine Ergebnisse sowie die Beweggründe, das Buch zu schreiben.

Heinrich Wullhorst, Foto: privat
Warum haben Sie sich entschieden, dieses Buch über die katholischen Verbände in Deutschland zu schreiben?
Heinrich Wullhorst: Die Idee zu diesem Buch ist entstanden durch ein Zitat von Bischof Overbeck, der im Mai vergangenen Jahres in der Katholischen Akademie Die Wolfsburg gesagt hat, die katholischen Verbände seien nicht aus unserer Zeit. Die Themen, die sie hätten, seien vielleicht noch wichtig, aber die Verbände selbst, auch als Gesellungsform, hätten sich eigentlich überholt. Das hat mich bewogen, dem Ganzen mal nachzugehen, und zwar nicht in einem wissenschaftlichen Elaborat, sondern in einem Buch, in dem ich meine eigenen Erfahrungen als Ehrenamtler beschreibe, aber auch mit vielen Menschen über die Verbände spreche.
Der Titel Ihres Buchs stellt eine gegensätzliche Frage nach der Zukunft der katholischen Verbände: „Leuchtturm oder Kerzenstummel?“. Was steckt hinter dieser Symbolik?
Wullhorst: Ich kam natürlich relativ schnell zu der Frage, wie denn nun die Wirkkraft der katholischen Verbände noch ist. Da entsteht natürlich dieses Bild des Leuchtturms: nach außen hin leuchten, wahrnehmbar sein, als starkes Symbol. Dann habe ich mir überlegt, was ein Gegenmotiv dazu sein kann, das gut zum Thema Kirche passt. Und ich fand den Kerzenstummel, von dem nicht mehr viel übrig ist, der runtergebrannt ist, bevor die Flamme dann gänzlich erlischt.
Bei Ihrer Recherche haben Sie deutschlandweit viele Verbände besucht und in Gesprächen befragt. Wie steht es denn nun um die Verbände? Sind sie Leuchtturm oder Kerzenstummel?
Wullhorst: Die katholischen Verbände können, gerade in der heutigen Zeit, weiterhin Leuchtturm sein, wenn sie denn leuchten wollen. Das heißt, wenn sie profiliert auftreten, klar und deutlich ihre Positionen benennen und sie dann auch gegenüber Kirche und Politik offensiv vertreten.
Wie haben die Verbände auf Ihre Recherche reagiert?
Wullhorst: Die Verbände waren zunächst skeptisch, auch weil ein solches Buch seit Jahrzehnten nicht mehr geschrieben wurde. Und wenn, dann gab es früher eher wissenschaftliche Texte. Bei den ersten Anfragen kamen viele Bedenken hoch und wohl die Sorge, dass ich ihnen zu sehr in die Karten schaue. Es ist mir allerdings gelungen, in den Gesprächen Vertrauen zu schaffen. Bisher habe ich nur positive Rückmeldungen aus den Verbänden bekommen. Sie merken ja auch beim Lesen, dass das Buch zeigt: ‚Ihr seid immer noch da, und wir brauchen Euch.’ Alle haben mir in Gesprächen gesagt, dass sie auf die Verbandszukunft hin denken und auch Änderungsprozesse durchführen müssen. Die Mentalität, die den Verbänden gerne vorgeworfen wird, auf Traditionen zu beharren, habe ich in den Bundesebenen der Verbände gar nicht vorgefunden.
Was ist Ihrer Meinung nach das Problem, das viele Verbände haben? Worin besteht der Wandel, den sie momentan durchmachen?
Wullhorst: Es verändert sich insgesamt in der Gesellschaft wahnsinnig viel. Das hängt mit dem demografischen Wandel zusammen, unsere Gesellschaft wird älter. Das hängt aber auch mit der Entwicklung von Kirche zusammen: Kirche verliert Struktur. Deshalb finde ich den Vorwurf des Bedeutungsverlustes gegenüber den Verbänden auch problematisch. An allem, was da geschieht, trägt die Kirche nämlich ihren nicht gerade kleinen Anteil. Die Skandale, die die Kirche in den letzten Jahren durchgerüttelt haben, haben auch die Verbände getroffen. Sie werden identifiziert mit allem, was unter dem ‚K’ passiert – etwa dem Missbrauchsskandal, dem Finanzgebaren im Bistum Limburg oder anderen Skandalen. Dieser Rucksack ist letztlich auch den katholischen Verbänden auf den Rücken geschnallt. Und dann ziemlich forsch drüber hinwegzugehen und zu sagen, die brauchen wir nicht mehr, ist einfach falsch. Ich bin der Meinung, wenn man mal in das Leben der Gemeinden schaut, dann wird auch der Bischof von Essen feststellen müssen, dass auch in seinem Bistum viele Menschen die verbandlichen Veranstaltungen besuchen. Ob er da mitkommt mit der Anzahl seiner Gottesdienstbesucher, ist eine Frage, die ich gerne mal von ihm beantwortet hätte.
Werden die Verbände diesen Wandel überleben? Was tun sie, um in Zukunft weiter zu bestehen?
Wullhorst: Sie werden sich sicherlich verändern müssen. Wie auch die Kirche. Bei jedem Entwicklungsschritt muss man aber erst einmal die Menschen mitnehmen, die man schon hat. Das gilt übrigens nicht nur für die Verbände, sondern ganz entscheidend auch für die Kirche. Und das sind immerhin in den klassischen Verbänden weit über eine Million Mitglieder. Man muss gleichzeitig versuchen, diejenigen zu erreichen, die man derzeit vielleicht noch nicht für sich gewinnen kann. Es ist momentan eigentlich die Stunde der Verbände – eine ganz große Chance, die sie überall nutzen müssen, wo die Kirche es aus ihrer Personalsituation heraus gar nicht mehr kann. Die Pfarreien werden immer größer. Nehmen wir als Beispiel Gelsenkirchen-Buer – ich komme selbst gebürtig daher –, da erlebt man das in einer XXL-Gemeinde wie St. Urbanus. Wie soll denn da noch Gemeinde als vertraute Einheit vor Ort stattfinden? Und genau da sind die Verbände gefragt als Gemeinde. Hans Hobelsberger, Rektor der Katholischen Hochschule NRW, sagt in meinem Buch, dass wir künftig wieder ganz sauber die Begriffe Pfarrei und Gemeinde unterscheiden müssen. Pfarrei als die Organisationsstruktur der Amtskirche und Gemeinde als das, was sich an der Basis sammelt, dort, wo zwei oder drei ‚in seinem Namen versammelt sind‘, auch eben als Verband oder Gruppe. Verbände als Kirche vor Ort, bieten den Menschen, wonach sie eigentlich ständig suchen: Heimat, Nähe, und ein Bildungsangebot in ihrem sozialen Raum.
Glauben Sie, dass das bei allen Verbänden funktionieren wird? Existieren etwa Kolping oder auch die kfd momentan nicht nur noch aus älteren Christen ohne verbandlichen Nachwuchs?
Wullhorst: Das ist ein sehr verengter Blick auf einige Bistümer, ohne das Ganze in Betracht zu ziehen. Schaut man nämlich einmal in ländlichere Regionen wie den Niederrhein oder das Münsterland, findet man in den Verbänden oftmals einen niedrigeren Altersdurchschnitt als das in Bistümern wie Essen oder Köln der Fall ist und große Mitgliederzahlen. Dort hat man die Zeichen der Zeit erkannt, sehr stark auf Familienarbeit zu setzen und dadurch eine Nachwuchsstruktur zu ermöglichen. Ein generationenübergreifender Verband wie Kolping, in dem 45000 junge Menschen organisiert sind – und das sind fast so viele wie in der FDP oder bei den Grünen eingeschrieben sind – kann stolz auf solche Zahlen sein. Das hat Zukunft. Die Verbände sind allerdings gefordert, dem demografischen Wandel gerecht zu werden und neue Angebote zu schaffen. Zum Beispiel müssen sie an die akademischen Nomaden denken – junge Leute, die zum Studium in andere Städte fern der Heimatgemeinde ziehen, dort aber nicht aufgefangen werden. Und die, wenn sie danach an einen anderen Ort ziehen, in der bestehenden Struktur auch keine Anknüpfung finden. Die Verbände sind gefragt, attraktiv für junge Menschen, gerade für junge Familien zu werden.
Wie wichtig ist es für die Verbände, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, vor allem in sozialen Medien?
Wullhorst: Das ist zentral für das Überleben eines Verbandes heutzutage. Und nicht nur, da aktiv zu sein, sondern Öffentlichkeitsarbeit qualifiziert und vernetzt zu leisten. Nicht nur über Crossmedia zu reden, sondern Crossmedia zu leben: Es nützt nichts, wenn ich in der Verbandszeitschrift einen Link zu einer Homepage drucke, sondern ich muss die Themen kreuz und quer durch alle sozialen Medien präsent machen. Wenn ich Twitter-Accounts von Verbänden sehe, bei denen die letzten Tweets ein Jahr alt sind, dann bringt das einfach nichts. Das Internet ist inzwischen ein unverzichtbares Medium, das genutzt werden muss. Die Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg macht das sehr stark und vorbildlich etwa auf Instagram oder Snapchat. Die sozialen Netzwerke werden sich auf die Zielgruppen hin noch sortieren, Snapchat wird sicherlich nicht der 70-Jährige ständig nutzen. Diese Medien, in denen vor allem die mittlere Altersgruppe organisiert sind, stärker zu nutzen und eben nicht nur ab und zu mal einen Post abzusetzen, sondern da integrativ zu werden und Menschen ans Denken zu kriegen, das müssen die Verbände lernen. Öffentlichkeitsarbeit kann nicht mit zwei Leuten funktionieren. Man braucht einen großen Stab, wie die Bistümer es teilweise vormachen. Das kostet Geld, und das muss man in die Hand nehmen und vielleicht an anderer Stelle einsparen. Ein weiterer Vorschlag: Die Verbände könnten ein gut gemachtes crossmediales Medium zum Thema katholische Soziallehre an den Markt bringen. Damit einfach mal in der Breite deutlich wird, was in den Verbänden passiert. Sonst reist jeder mit seinem Verbandsblatt um sich selbst. Wenn man nicht in den zeitgemäßen Kategorien der Kommunikation denkt, ist man am Ende vielleicht doch nicht mehr Leuchtturm, sondern nur noch Kerzenstummel.
Warum sollten die Menschen also auch in Zukunft in katholische Verbände eintreten?
Wullhorst: Ob sie da eintreten, ist für mich nachrangig, wichtig ist das Engagement. Dass in Zukunft weniger Menschen Verbandsmitglieder werden, sich aber mehr Engagierte finden, die ein gemeinsames Ziel verfolgen, kann auch ein Weg sein. Die Bereitschaft, Mitglied zu werden, das kennen wir etwa aus politischen Parteien, aus Schützenvereinen – das wird sicher immer schwieriger. Aber auch in kleineren Strukturen können Verbände Engagement ermöglichen und darauf kommt es in der Zukunft stärker an.
Was ist gesellschaftliche Aufgabe der Verbände heute?
Wullhorst: Kardinal Lehman hat einmal gesagt, die katholischen Verbände seien so etwas wie die Scharniere der Kirche in die Gesellschaft hinein. Da sind wir dann ganz nah bei Papst Franziskus, der in ‚Laudato Si’ auffordert, an die Ränder zu gehen. Aber wer soll denn an die Ränder gehen? Die wenigen Seelsorger, die die Kirche noch hat, können nicht alle an die Ränder, weil sie dann in der Mitte fehlen. Und an den Rändern ist es für Kirche auch oft schwerer, akzeptiert und wahrgenommen zu werden. Wir brauchen Strukturen, mit denen wir die Menschen erreichen, die mit Kirche nichts mehr am Hut haben. Das kann nach wie vor die große Aufgabe der Verbände sein. Wenn es ihnen gelingt, Menschen Heimat und Nähe zu geben, dann werden diese Organisationen überleben.
Wie politisch müssen Verbände sein? Wie sehr dürfen oder sollten sie sich in politische Themen einmischen?
Wullhorst: Verbände müssen politisch sein. Sonst verlieren sie ihren Anspruch zu existieren. Wenn wir über die katholische Soziallehre reden, ist das etwas Hochpolitisches. Die Verbände sind genau aus einer solchen politischen Gemengelage entstanden. Als die Menschen im 19. Jahrhundert um ihre Rechte, Meinungs- und Religionsfreiheit gekämpft haben, sind die Verbände auf einer solchen politischen Basis entstanden – etwa die KAB im Einsatz für die Arbeiter. Ich vermisse in den Verbänden heute vielfach klare politische Aussagen zu den gesellschaftlich relevanten Fragen. Durch die gesellschaftliche Breite der Mitgliedschaft fehlt oft der Mut, klar und deutlich Kante zu zeigen. Wenn die Verbände das allerdings tun, werden sie ganz anders wahrgenommen. Auf der lokalen Ebene gilt das genauso für die Ortsvereine.
Haben Sie mit Ihrem Buch also die These von Bischof Overbeck widerlegt?
Wullhorst: Ich weiß nicht, ob ich sie widerlegt habe. Ich habe zumindest einen ganz anderen Blick auf die Verbände ermöglicht. Ich will mit meinem Buch deutlich machen, wie wichtig es ist, dass die Verbände da sind, dass wir sie immer noch haben – auch als zentrale Knotenpunkte in den Pfarreien. Bisher hat Bischof Overbeck sich noch nicht zu meinem Buch geäußert, ich bin neugierig, ob und wie er das noch tun wird.