Aus Sicht des Wiener Theologen Paul Zulehner ist die Hauptursache für sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche eine sexuelle Unreife der Täter. Zu der Tatsache, dass in den Familien und in der umgebenden Kultur „zu viele Männer erotisch wie sexuell unreif aufwachsen“, kämen verschärfend noch strukturelle Probleme im Kirchensystem hinzu.
Zulehner äußerte sich in dem am Freitag veröffentlichten ersten Teil einer Online-Studie zu Missbrauch. Die Gesamtstudie erscheint 2020. Darin stellt der frühere Professor für Pastoraltheologie auch bisherige Schuldzuschreibungen in Frage. Es könne sein, dass die kirchlichen restriktiven Sexualnormen zu unreifer und neurotisierter Sexualität führten; doch sei der Einfluss der Kirche gerade mit Blick auf die Sexualkultur inzwischen gesellschaftlich völlig bedeutungslos.
So stelle sich die Frage „ob die „Befreiung der Liebe“, wie sie seit den 1968ern stattgefunden hat, tatsächlich zu besserem Gelingen der erotisch-sexuellen Reifung geführt habe. „Hätte dann nicht der verbreitete Missbrauch von Kindern aufhören müssen? Ist er nicht im Gegenteil angestiegen und unverfrorener, im Internet sogar kommerzialisiert geworden?“ Die Sexualkultur, die sich nach der „sexuellen Revolution“ ohne Mitwirkung der Kirche ausgebildet habe, habe den Missbrauch offenkundig nicht vermindert.
Allerdings könne sich die Verpflichtung zum Zölibat als „negativer Auslesefaktor“ für sexuell unreife Männer auswirken. Ebenso stelle sich „in aller Schärfe“ die Frage, ob das „System Priesterseminar“ nicht ein strukturelles Entwicklungshindernis für erotisch-sexuelle Reifung darstellen könne.
Der Zölibat als solcher ist jedoch Zulehner zufolge noch nicht die Ursache für sexuellen Missbrauch. „Wäre dies der Fall, dann würde das Hauptfeld des Missbrauchs in der Gesellschaft nicht in den Familien liegen.“ Vielmehr werde klar, „dass es die erotisch-sexuelle Unreife ist, mit der ein Kandidat in die zölibatäre Lebensform eintritt“.
Zulehner schlägt vor, Priesterseminare in eine Art christlicher Basisgemeinschaft umzuformen, in der (junge) Frauen und Männer gemeinsam leben, Eucharistie feiern und studieren. Es wäre in solchen Basisgemeinschaften möglich, so der Theologe, sich in einem offeneren Feld „freier“ für die Ehelosigkeit, aber auch für eine Ehe zu entscheiden. „Die Kirche ist gut beraten, auf beide Lebensformen vorzubereiten“, so der Theologe