„Diese Zeit erlaubt keinen Egoismus“
Vatikanstadt – In ungewöhnlicher Form hat Papst Franziskus an Ostern den Segen „Urbi et orbi“ erteilt. Statt vor Zehntausenden Pilgern und Besuchern auf dem Petersplatz fand die Zeremonie am Ostersonntag wegen der Corona-Pandemie ohne öffentliche Teilnahme im Petersdom statt. Das Kirchenoberhaupt sprach die Segensformel nur flankiert von seinem Zeremoniar vor dem Hauptaltar in das fast 100 Meter lange leere Hauptschiff der Basilika hinein. Gläubige weltweit verfolgten die Feier über TV-Sender und einen Livestream im Internet.
Der Segen, der nach seinem lateinischen Titel der Stadt Rom und dem Erdkreis gilt, markiert einen Höhepunkt der Osterfeierlichkeiten in Rom. Normalerweise wird er von der Mittelloggia des Petersdoms erteilt. Zu dem Zeremoniell gehört unter normalen Umständen auch das Abspielen der vatikanischen Hymne durch die Kapellen der päpstlichen Gendarmerie und der Schweizergarde.
In einer außergewöhnlichen Geste hatte der Papst diesen feierlichsten Segen der katholischen Kirche schon einmal am 27. März erteilt, um den Betroffenen der Pandemie Trost und Hoffnung zu spenden. Üblicherweise findet der Segen nur zu Ostern, zu Weihnachten und unmittelbar nach einer Papstwahl statt. Katholische Gläubige können durch ihn einen Ablass ihrer Sündenstrafen erhalten.
Papst ruft in Osterbotschaft Welt zum Zusammenhalt auf
Papst Franziskus hat in seiner Osterbotschaft an die Welt zu internationalem Zusammenhalt aufgerufen. Die Europäische Union stehe mit der Corona-Krise vor einer „epochalen Herausforderung, von der nicht nur ihre Zukunft, sondern die der ganzen Welt abhängt“. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert die Ansprache des Papstes auszugsweise auf Grundlage der offiziellen Übersetzung des Vatikan:
In diesen Wochen hat sich das Leben von Millionen von Menschen schlagartig verändert. (…)
Diese Zeit erlaubt keine Gleichgültigkeit, denn die ganze Welt leidet und muss sich bei der Bekämpfung der Pandemie zusammenschließen. Der Auferstandene schenke den Armen und allen, die am Rande der Gesellschaft leben, den Flüchtlingen und Obdachlosen, Hoffnung. Mögen diese schwächsten Brüder und Schwestern, die die Städte und Randgebiete in allen Teilen der Welt bevölkern, nicht auf sich allein gestellt sein. Lassen wir nicht zu, dass es ihnen an den lebensnotwendigen Dingen fehlt, die jetzt aufgrund der vielen Schließungen nur schwer zu finden sind, ebenso wie auch Medikamente und eine angemessene Gesundheitsversorgung.
Angesichts der Umstände sollten auch die internationalen Sanktionen gelockert werden, die es den betreffenden Ländern unmöglich machen, ihre Bürger angemessen zu unterstützen. Alle Staaten sollten in die Lage versetzt werden, die notwendigsten Maßnahmen in Angriff zu nehmen, indem die Schulden, welche die Bilanzen der ärmsten Länder belasten, teilweise oder sogar ganz erlassen werden.
Diese Zeit erlaubt keinen Egoismus
Diese Zeit erlaubt keinen Egoismus, denn die Herausforderung, vor der wir stehen, ist uns allen gemeinsam und macht keine Unterschiede. Bei den vielen Gebieten der Welt, die vom Coronavirus betroffen sind, kommt mir eigens in Bezug auf Europa folgender Gedanke. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte dieser geschätzte Kontinent wieder neu erstehen, weil ein konkret spürbarer Geist der Solidarität es ermöglichte, die Rivalitäten der Vergangenheit zu überwinden. Umso dringender ist es, gerade unter den heutigen Umständen, dass diese Rivalitäten nicht wieder aufleben, sondern dass sich alle als Teil einer Familie erkennen und sich gegenseitig unterstützen.
Die Europäische Union steht heute vor einer epochalen Herausforderung, von der nicht nur ihre Zukunft, sondern die der ganzen Welt abhängt. Lasst uns nicht die Gelegenheit versäumen, einen weiteren Beweis der Solidarität zu erbringen, auch wenn wir dazu neue Wege einschlagen müssen. Als Alternative bleibt sonst nur ein Egoismus der Einzelinteressen und die Versuchung, in die Vergangenheit zurückzukehren, und das Risiko in Kauf zu nehmen, dass das friedliche Zusammenleben und die Entwicklung künftiger Generationen auf eine harte Probe gestellt werden.
Diese Zeit erlaubt keine Spaltungen
Diese Zeit erlaubt keine Spaltungen. Möge Christus, unser Friede, diejenigen erleuchten, die in den Konflikten Verantwortung tragen, so dass sie den Mut haben, dem Aufruf zu einem globalen und sofortigen Waffenstillstand in allen Teilen der Welt zu folgen. Dies ist nicht die Zeit, weiter Waffen zu produzieren und zu handeln und ungeheure Summen auszugeben, die gebraucht werden sollten, um Menschen zu heilen und Leben zu retten. Dagegen muss es die Zeit sein, endlich dem langen und blutigen Krieg in Syrien, dem Konflikt im Jemen und den Spannungen im Irak sowie im Libanon ein Ende zu setzen. Dies ist hoffentlich auch der Zeitpunkt, an dem Israelis und Palästinenser endlich wieder den Dialog aufnehmen, um eine stabile und dauerhafte Lösung zu finden, die beiden ein Leben in Frieden ermöglicht. Das Leid der Menschen in der Ost-Ukraine muss aufhören. Man setze den Terroranschlägen, die gegen so viele unschuldige Menschen in verschiedenen Ländern Afrikas verübt wurden, ein Ende.
Diese Zeit erlaubt kein Vergessen. Die Krise, in der wir uns augenblicklich befinden, lasse uns nicht die zahlreichen anderen Nöte vergessen, unter denen viele Menschen leiden. Der Herr des Lebens zeige den Menschen in Asien und Afrika seine Nähe, die schwere humanitäre Krisen durchmachen, wie etwa in der Region Cabo Delgado im Norden Mosambiks. Er erwärme die Herzen der vielen Menschen, die aufgrund von Krieg, Dürre und Hungersnot auf der Flucht sind und vertrieben wurden.
Den Herrn in unseren Herzen und in unserem Leben siegen lassen.
Er beschütze die vielen Migranten und Flüchtlinge, unter denen sich zahlreiche Kinder befinden und die unter unerträglichen Bedingungen leben, insbesondere in Libyen und an der griechisch-türkischen Grenze – und ich möchte auch die Insel Lesbos nicht vergessen. Er ermögliche, dass man in Venezuela konkrete und sofortige Lösungen findet, die darauf abzielen, internationale Hilfe für die Bevölkerung zu ermöglichen, die unter der schweren politischen, sozioökonomischen und gesundheitlichen Situation leidet.
Liebe Brüder und Schwestern, Gleichgültigkeit, Egoismus, Spaltung und Vergessen sind wahrlich nicht die Worte, die wir in dieser Zeit hören wollen. Wir wollen sie aus allen Zeiten verbannen! Sie scheinen besonders dann die Oberhand zu bekommen, wenn Angst und Tod in uns dominieren, das heißt, wenn wir den Herrn in unseren Herzen und in unserem Leben nicht siegen lassen. Er, der den Tod bereits besiegt hat und uns den Weg zum ewigen Heil eröffnet hat, vertreibe die Schatten unserer armen Menschheit und führe uns hin zu dem herrlichen Tag, der keinen Abend kennt.