Hat der Vatikan vergangene Woche eine Wasserscheide in Richtung Transparenz überschritten? Vermutlich, hoffentlich, sagen nicht wenige Stimmen.
Vatikanstadt – Eines ist jetzt schon klar: Mit dem 450 Seiten starken „McCarrick-Report“, gespickt mit 1.410 Fußnoten, hat die Zentrale der katholischen Weltkirche einen Schritt getan, den Experten noch vor wenigen Jahren für unmöglich hielten. Langjährige Vatikan-Korrespondenten wie der US-Amerikaner John Allen sprechen von einem „historischen Augenblick“, dessen Tragweite die Kurie selbst womöglich noch nicht erkannt habe.
Minutiöser Bericht
Alles, was in dem teils minutiösen Bericht geschildert und zitiert wird, war bis vor wenigen Jahren hoch geheim, galt vielfach als „sub secreto pontificio“. Der geheimnisumwitterte Fragebogen, den Nuntiaturen verschickten, um Erkundigungen zu möglichen Kandidaten fürs Bischofsamt einzuholen, persönliche Einschätzungen von Priestern, Bischöfe, Kardinälen – und auch Laien – über andere Kleriker. Korrespondenz, Telefonate und Diskussionen zwischen Kurie, Nuntien und Bischöfen – sowie Vorwürfe wie Gerüchte über Misshandlung und Missbrauch.
Alles, was die Causa des früheren Erzbischofs von Washington (2000-2006) und Ex-Kardinals Theodore McCarrick betrifft, ist aufgeführt und belegt – von anonymen Briefen, kurialen Aktennotizen über Zeugenaussagen von Betroffenen bis hin zu den von ihnen geschilderten Bett- und Fummelszenen seiner Exzellenz. Weswegen der Bericht im Vorwort auch anmerkt, manche Passagen seien nicht jugendfrei.
Bericht zieht keine Konsequenzen
Hans Zollner, Psychologe, Theologe, Mitglied der Päpstlichen Kinderschutzkommission und einer der versiertesten Experten zum Thema Missbrauch weltweit, gibt dem McCarrick-Bericht „eine 1- bis 2+“. „Der Bericht benennt ganz klar Abläufe und Personen und zeigt auf, was falsch gelaufen ist“, sagt Zollner. Insofern sei er sehr zufrieden mit dem Report; manches Bistum in Deutschland könne sich „davon eine Scheibe abschneiden“.
Allerdings lässt der Report die eruierten Fakten meist unvermittelt und unkommentiert stehen. Er zieht keine Konsequenzen, was aber nicht seine Aufgabe war. Sicherlich lässt sich an dem Bericht noch einzelnes kritisieren. Liegt der Großteil kurialen Versagens tatsächlich in den Pontifikaten Johannes Pauls II. und teilweise Benedikts XVI.? Auch könnte man hinter die Unparteilichkeit des Autorenteams um US-Anwalt Jeffrey Lena ein kleines Fragezeichen setzen. Lena, der zeitweise auch in Italien lehrt, vertritt seit etlichen Jahren den Heiligen Stuhl bei Gerichtsverfahren in USA.
Druck auf den Vatikan war sehr hoch
Umgekehrt führt ein früherer Leiter einer Kurienbehörde die Qualität des McCarrick-Reports auch darauf zurück, „dass er von Amerikanern und nicht Italienern gemacht wurde“. Das ist sicher unfair, weil die Fleißarbeit des Aktenstudiums im Vatikan sicherlich Mitarbeitern des Staatssekretariats geleistet haben. Um vorzeitige Leaks zu verhindern, konnte Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin nicht Dutzende Leute auf den Report ansetzen. Was sich noch nicht unabhängig prüfen lässt: ob alle relevanten Unterlagen und Interviews vollständig und korrekt wiedergegeben wurden.
Klar: Der Druck auf den Vatikan war sehr hoch, als im von Missbrauchsskandalen erschütterten „annus horribilis“ 2018 Ex-Nuntius Carlo Maria Vigano den Vorwurf erhob, Franziskus selbst sei schuld, dass mutmaßliche Strafmaßnahmen gegen McCarrick wieder aufgehoben wurden. Ein Vorwurf, den der Report relativ stringent widerlegt.
Benedikt XVI. bestätigt Passagen
Als Emeritus, so heißt es in einer Fußnote, habe Benedikt XVI. über Erzbischof Gänswein mitteilen lassen, der Inhalt der ihn betreffenden Passagen stimme mit seinen eigenen Erinnerungen überein. Es habe Verdächtigungen gegeben, aber an konkreten Beweisen gemangelt. Die Aufforderung, McCarrick solle als Erzbischof von Washington zurücktreten, sei als „klares Signal“ der Missbilligung gedacht gewesen.
Deutlich wird die Tragik um einen Menschen wie McCarrick, der schamlos übergriffig wurde. Der seine Autorität missbrauchte, glänzend lügen konnte und gleichzeitig wegen seines rastlosen Engagements, seiner Fähigkeiten geschätzt und bewundert wurde – von Mitbrüdern, Geschäftsleuten und Politikern bis zu US-Präsidenten.
Messlatte für künftige Untersuchungen sehr hoch gelegt
Erst nach McCarricks Entlassung aus Kardinals- und Klerikerstand – wegen früheren Missbrauchs von Minderjährigen – und den Vorwürfen Viganos stieg der so gefürchtete öffentliche Druck. So hoch, dass mit dem Report die Messlatte für künftige Untersuchungen ebenfalls sehr hoch gelegt ist. Wie oft der Vatikan diese Latte in Zukunft reißt, muss sich zeigen.
Was der Report nicht verdient hat, ist schnellschüssiges Gezeter zwischen Kirchenfraktionen. Wie schuldig ist Johannes Paul II., wie schwach war Benedikt XVI., wie uninteressiert Franziskus? Der Report zeigt deutlich, wie widersprüchlich und vielschichtig Informationen und Aussagen, wie groß Unsicherheiten in Entscheidungen waren. Wie oft das Thema beiseite gelegt wurde wie eine heiße Kartoffel. Was daher dringend ansteht und was nicht nur die Opfer des Missbrauchs von Sexualität, Amt und Gewissen auch erwarten, sind Konsequenzen im Handeln – überall.
Lassen sich die neuen Maßstäbe des Vatikan einhalten?
Lassen sich die neuen Maßstäbe des Vatikan einhalten, allein vom Personal-, Finanz- und Zeitaufwand her? Wenn Polens Bischöfe eine Untersuchung zu Kardinal Stanislaw Dziwisz fordern? Wenn Missbrauchsopfer von Marcial Maciel (1920-2008) wissen wollen, warum der charismatisch-janusköpfige Gründer der Legionäre Christi im Vatikan so lange hofiert wurde? Wenn Spender des Peterspfennigs wissen wollen, warum das vatikanische Staatssekretariat dreistellige Millionenbeträge bei dubios-dilettantischen Finanz- und Immobiliengeschäften versenkte? Bleibt der Vatikan künftig hinter dem jetzt vorgelegten Standard zurück, fragt sich jeder: Was haben sie zu verbergen?