Was das Kölner Missbrauchsgutachten Erzbischof Heße vorwirft

Ein Gutachten zu Missbrauch belastet den Hamburger Erzbischof Stefan Heße. Als Personalchef und Generalvikar in Köln soll er elf Fälle nicht ordnungsgemäß aufgeklärt oder gemeldet haben. Was wird Heße vorgeworfen?

 

Ein Gutachten zu Missbrauch belastet den Hamburger Erzbischof Stefan Heße. Als Personalchef und Generalvikar in Köln soll er elf Fälle nicht ordnungsgemäß aufgeklärt oder gemeldet haben. Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße (54) hat Papst Franziskus seinen Rücktritt angeboten. Das am Donnerstag vorgestellte Missbrauchsgutachten für das Erzbistum Köln attestiert dem früher dort als Personalchef und Generalvikar tätigen Heße elf Pflichtverletzungen im Umgang mit neun mutmaßlichen Missbrauchstätern. Nach Auswertung von mehr als 200 Dokumenten fanden die Anwälte der Kanzlei Gercke Wollschläger, dass Heße fünfmal gegen seine Pflicht verstoßen hat, Verdachtsfälle an die Staatsanwaltschaft oder die Römische Glaubenskongregation zu melden. Sechs Vorgänge soll er nicht ordnungsgemäß aufgeklärt haben.

Waren Meisner und Schwaderlapp informiert?

In einem Fall geht es um einen Geistlichen, der 1971 seinen damals elfjährigen Neffen sexuell missbraucht haben soll. Der Neffe wandte sich 2011 an die Ansprechperson des Erzbistums Köln für sexuellen Missbrauch. Er berichtete, dass sein Onkel auch versucht habe, seine beiden Cousins sexuell zu missbrauchen. In einem Gespräch mit Personalchef Heße und der Justiziarin gab der Beschuldigte daraufhin zu, dass er versucht habe, seinen Neffen zu berühren. Damals sei dieser aber bereits 17 bis 18 Jahre alt gewesen. Der Rest der Vorwürfe sei erfunden. Der Betroffene erhielt 2012 vom Erzbistum eine Leistung in Anerkennung seines Leids – ein Anzeichen dafür, dass man seine Schilderung für plausibel hielt. Darüber hinaus geschah jedoch nichts.

Heße hätte gemäß der kirchlichen Leitlinien ein Gespräch mit dem Neffen führen müssen, sein Alter zum Tatzeitpunkt klären und die Cousins ausfindig machen müssen, so die Gutachter. Die Justiziarin hätte den Fall an die Staatsanwaltschaft melden müssen. Heße sagte den Juristen, man habe den Betroffenen aufgefordert, die Cousins zu bitten, sich zu melden. Dies sei aber nicht geschehen. Damit war der Fall für ihn offenbar erledigt. Es ist unklar, ob Heße seine damaligen Vorgesetzten, Generalvikar Dominikus Schwaderlapp und Erzbischof Joachim Meisner, über den Fall informierte. Sie hätten ein kirchenrechtliches Verfahren einleiten müssen. Heße sagte den Gutachtern, er habe sich bei der Lektüre der Akte selbst gewundert, dass der Fall nicht weiter gegangen sei. Aus seiner Sicht sei für ein kirchenrechtliches Verfahren der Leiter des Kölner Kirchengerichts, Offizial Günter Assenmacher, zuständig gewesen. Ob dieser von dem Fall erfuhr, ist unklar.

Vorgänge verliefen im Sande

Ähnlich verliefen weitere Vorgänge im Sande – teils, weil sich von den Verantwortlichen einer auf den anderen verließ, teils weil Personalchef Heße dem Gutachten zufolge zu falschen Einschätzungen gelangte. So begründete er sein Nicht-Handeln in mehreren Fällen damit, dass er die geschilderten Taten nur für grenzverletzendes Verhalten und nicht für sexuellen Missbrauch hielt. Dies hätten aber andere beurteilen müssen, etwa die Staatsanwaltschaft und die Glaubenskongregation, so die Gutachter.

Im Fall des Pfarrers U., der sich zwischen 1993 und 1999 mehrfach an seinen drei minderjährigen Nichten vergangen haben soll, werfen die Anwälte Heße vor, bewusst kein Protokoll über ein Gespräch mit U. geführt zu haben, damit es im Falle staatlicher Ermittlungen nicht beschlagnahmt werden kann. Belegt ist dies durch einen von Heßes Sekretärin verfassten und von ihm selbst unterzeichneten Aktenvermerk. Heße gab zu Protokoll, dass er sich nicht erklären könne, wie seine Unterschrift unter die Notiz gelangt sei. Möglicherweise sei an jenem Tag viel zu tun gewesen. Die Akte des Priesters blieb so jedenfalls frei von belastenden Hinweisen und es kam zu keinem kirchlichen Ermittlungsverfahren. Nachdem der Fall 2018 unter Erzbischof Rainer Maria Woelki neu aufgerollt wurde, hat die Staatsanwaltschaft Köln im vergangenen Jahr Anklage gegen U. erhoben.

Heße: Nicht auf den Umgang mit Missbrauchsfällen vorbereitet

Involviert war Heße auch in den Fall des inzwischen aus dem Klerikerstand entlassenen Pfarrers A. Trotz zweifacher Verurteilung wegen Kindesmissbrauchs in den 1970er- und 80er-Jahren durfte der Priester über Jahrzehnte weiter in seinem Heimatbistum Köln sowie in den Bistümern Münster und Essen als Seelsorger arbeiten. Im Jahr 2008 berichtete ein weiterer Betroffener dem Erzbistum, von A. zwischen 1964 und 1970 im Alter von 8 bis 14 Jahren missbraucht worden zu sein. Er wollte wissen, ob das Erzbistum damals bereits von den Vorfällen wusste und ob der Priester zur Verantwortung gezogen wurde. Personalchef Heße antwortete dem Betroffenen in einem Brief, dass der Geistliche eine Haftstrafe verbüßt habe, dem Erzbistum aber aus dem fraglichen Zeitraum bislang keine Beschwerden bekannt seien. Damit war der Fall für Heße abgeschlossen. Laut den Gutachtern hätte er den Vorgang weiter aufklären müssen, etwa durch eine Konfrontation des Geistlichen mit den Vorwürfen.

Insgesamt gingen in Heßes Amtszeiten als Personalchef und Generalvikar 135 Verdachtsmeldungen beim Erzbistum ein. So viele sind zumindest in den Akten registriert. In seiner Befragung gab Heße immer wieder an, sich an die einzelnen Fälle nicht genau erinnern zu können. Teils kehrte seine Erinnerung durch Aktenstudium zurück – insgesamt mehrere Tausend Seiten. Allgemein erklärte Heße, dass er vor Antritt seiner Stelle als Personalchef nicht auf den Umgang mit Missbrauchsfällen vorbereitet worden sei. Meist habe er mit Generalvikar Schwaderlapp, der Justiziarin und dem Offizial Assenmacher überlegt, was zu tun sei. Das informelle Gremium soll sich regelmäßig im Büro des Generalvikars getroffen haben. Die Entscheidung zum Umgang mit einem Beschuldigten habe jedoch stets bei Erzbischof Meisner gelegen. Diesen habe er über alle Verdachtsmeldungen informiert, versicherte Heße. In den Akten dokumentiert ist dies häufig nicht. Es wird deutlich, dass sich Heße offenbar mehr als Berater des Erzbischofs denn als Entscheidungsträger sah.

Auf unzureichenden Rat verlassen

Die Studie hält Heße zugute, dass in seine Zeit als Personalchef jenes Jahr 2010 fiel, als Missbrauchsmeldungen „flutartig“ beim Erzbistum eingingen. Angesichts zahlreicher rechtlicher Änderungen habe Unklarheit über die Rechtslage geherrscht. Zudem habe sich Heße auf den teils unzureichenden Rat der Justiziarin und des Offizials Assenmacher verlassen. In einigen Fällen konnte Heße die Vorwürfe gegen ihn ausräumen. In keinem einzigen Fall attestieren die Gutachter ihm Strafvereitelung im strafrechtlichen Sinn. Dennoch lässt sich seine im Vorfeld mehrfach geäußerte Unschuldsbeteuerung nach Veröffentlichung der Studie nicht mehr aufrechterhalten. Das Rücktrittsgesuch des Hamburger Erzbischofs wird auch von Beobachtern vielfach als konsequenter und angemessener Schritt bewertet.

Von Michael Althaus (KNA)