1.893 Seiten im kardinalsroten Einband – das Münchner Missbrauchsgutachten

Das Urteil ist verheerend: Allen Verantwortlichen der vergangenen 75 Jahre attestiert das Münchner Missbrauchsgutachten Fehler. Vor allem die Passagen über den Ex-Papst werden in die Geschichtsbücher eingehen.
1.893 Seiten im kardinalsroten Einband Vier Bände mit fast 1.900 Seiten umfasst die "Bilanz des Schreckens", die Rechtsanwälte am Donnerstag in einem Gutachten zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising präsentierten. Von "Totalversagen" eines Systems sprachen sie, zumindest bis 2010. Geschont haben sie keinen der aus ihrer Sicht mitverantwortlichen kirchlichen Würdenträger, auch nicht Kardinal Reinhard Marx und Benedikt XVI., den emeritierten Papst.

Das Münchener Gutachten –Foto: rwm

Vier Bände mit fast 1.900 Seiten umfasst die „Bilanz des Schreckens“, die Rechtsanwälte am Donnerstag in einem Gutachten zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising präsentierten. Von „Totalversagen“ eines Systems sprachen sie, zumindest bis 2010. Geschont haben sie keinen der aus ihrer Sicht mitverantwortlichen kirchlichen Würdenträger, auch nicht Kardinal Reinhard Marx und Benedikt XVI., den emeritierten Papst.

Aussagen „wenig glaubwürdig“

Dessen Aussagen zu Beteiligung und Mitwisserschaft im Fall des Wiederholungstäters Peter H., der 1980 von Essen nach München kam, um sich dort einer Therapie zu unterziehen, bezeichnete Anwalt Ulrich Wastl als „wenig glaubwürdig“. Benedikt XVI. macht in einer schriftlichen Einlassung geltend, er habe als Münchner Erzbischof an der entscheidenden Ordinariatssitzung gar nicht teilgenommen. Wastl las vor den Journalisten aus dem Sitzungsprotokoll vor. Darin wird Ratzinger an mehreren Stellen als Berichterstatter über andere Vorkommnisse genannt.

Ein Fehlverhalten erkennen die Anwälte bei Ratzinger auch noch in drei weiteren Fällen, was dieser aber bestreitet. Dabei geht es um die Versetzung straffällig gewordener Geistlicher, die andernorts weiter Seelsorge betreiben durften. Der emeritierte Papst schreibt dazu, er habe von ihren Taten „keine Kenntnis“ gehabt. Er sieht die Versäumnisse bei anderen „Personalverantwortlichen“. Mehrmals gibt Wastl die dringende Empfehlung ab, die 82 Seiten umfassende Stellungnahme Benedikts selbst zu lesen. Sie ermögliche einen „authentischen Einblick“, wie ein Spitzenvertreter der katholischen Kirche über sexuellen Missbrauch denke.

Benedikt XVI.: „Tathandlungen bestanden jeweils im Entblößen des eigenen Geschlechtsteils“

An einer Stelle greift der Anwalt der Lektüre vor und zitiert Benedikts Stellungnahme: „Pfarrer (Name geschwärzt) ist als Exhibitionist aufgefallen, aber nicht als Missbrauchstäter im eigentlichen Sinn. Die Tathandlungen bestanden jeweils im Entblößen des eigenen Geschlechtsteils vor vorpubertären Mädchen und in der Vornahme von Masturbationsbewegungen (…). In keinem der Fälle kam es zu einer Berührung.“

Der Täter habe im übrigen als „anonymer Privatmann“ agiert und sei „nicht als Priester erkennbar“ gewesen. In der Pfarrseelsorge und als Religionslehrer habe er sich nicht das Mindeste zuschulden kommen lassen. Der ehemalige Papst flüchtet sich offenbar lieber in kirchenrechtliche Spitzfindigkeiten, als die Gelegenheit zu nutzen, Demut zu zeigen. Doch wie auch immer Ratzingers Einlassungen zu bewerten sind, fest steht schon jetzt: Seine Rolle im Missbrauchsskandal wird in den kommenden Wochen intensiv diskutiert werden.

Staatsanwaltschaft prüft 42 Fälle

Ob das Gutachten auch strafrechtliche Folgen hat, bleibt abzuwarten. Die Staatsanwaltschaft München I ist jedenfalls schon mit der Prüfung von 42 Fällen befasst, in denen die Anwälte ein Fehlverhalten von Verantwortungsträgern festgestellt haben. nders als der Gercke-Report für Köln kommt die Kanzlei WSW zu dem Ergebnis, dass Straftatbestände wie Beihilfe zum Missbrauch im Handeln oder Unterlassen einzelner Münchner Kirchenoberer festgestellt werden können.“

Wird es personelle Konsequenzen geben? Die Anwälte halten sich mit Empfehlungen an ihren Auftraggeber zurück. Kardinal Reinhard Marx, dem sie vor allem vorwerfen, dass er den Umgang mit Missbrauchsfällen delegiert habe, statt ihn zur Chefsache zu machen, will sich erst in einer Woche eingehender äußern. Kurzfristig hat er aber ein Statement für den Nachmittag angekündigt.

Kritik an Offizial Lorenz Wolf

Mit seinem Offizial Lorenz Wolf sind die WSW-Leute ebenfalls kritisch ins Gericht gegangen. Er hätte in dem berühmten Fall H. wegen Befangenheit gar kein kirchenrechtliches Verfahren führen dürfen, sagen sie. Außerdem bemängeln sie bei ihm eine „distanziert-ablehnende Grundhaltung gegenüber Schilderungen von Betroffenen“.

Wie geht es nun weiter? Die Juristen halten weitere Gutachten im Grunde für überflüssig. Zum Systemversagen seien keine neuen Erkenntnisse mehr zu erwarten, sagen die WSW-Anwälte. Stattdessen reden sie den Bischöfen und ihren leitenden Mitarbeitern ins Gewissen. Sie sollten sich fragen, ob es bis 2010 wirklich keine Möglichkeit gegeben habe, innerhalb des Systems zu opponieren.

Wastl sagte, er habe in den drei von seiner Kanzlei untersuchten Bistümern bisher nur einen solchen Menschen angetroffen. Der sei aber schon 1993 verstorben. Auf die Frage einer Journalistin, ob es bei der zweijährigen Untersuchung über den Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum nicht wenigstens einen solchen „Gerechten“ gegeben habe, antwortet Marion Westpfahl knapp: „Ein solcher ist mir nicht in Erinnerung.“

Von Christoph Renzikowski (KNA)

Dokumentation: „Ein insoweit untauglicher Versuch“ – Gesamtbewertung im Münchner Gutachten zu Erzbischof Ratzinger

Das am Donnerstag in München vorgestellte Missbrauchsgutachten befasst sich ausführlich mit der Zeit von Kardinal Joseph Ratzinger als dortiger Erzbischof (1977-1982). Die „gutachterliche Gesamtbewertung“ des späteren Papstes Benedikt XVI. in einer gekürzten Fassung:

„Nach Meinung der Gutachter kann es, nicht zuletzt im Interesse einer möglichst fundierten Aufarbeitung von Missbrauchs(verdachts)fällen, als nicht hoch genug eingeschätzt werden, dass Papst em. Benedikt XVI. seine nach Auffassung der Gutachter zunächst praktizierte Weigerungshaltung aufgegeben und sich entschlossen hat, zu den ihm übermittelten Sachverhalten Stellung zu nehmen und die in diesem Zusammenhang seitens der Gutachter gestellten ergänzenden Fragen zu beantworten.

Ohne jeden Zweifel hat er damit einen unmittelbaren und aus Sicht der Gutachter in höchstem Maße authentischen Einblick gegeben, wie die weltkirchlich prägende Haltung des vormals höchsten kirchlichen Verantwortungsträgers gegenüber Fällen sexuellen Missbrauchs und ihrer persönlichen Verantwortlichkeit im Umgang mit diesen war und auch heute noch ist.

In den verbleibenden Fällen ist jedoch eine Bereitschaft Benedikts XVI., das eigene Handeln und die eigene Rolle selbstkritisch zu reflektieren und (zumindest Mit-)Verantwortung für Unzulänglichkeiten in den Reaktionen sowohl gegenüber den Beschuldigten als auch den Geschädigten zu übernehmen, für die Gutachter nicht erkennbar.“

Zwar haben diese Erläuterungen Benedikts XVI. in einem Fall dazu geführt, dass die Gutachter ihre vorläufige Bewertung des Sachverhalts und die erhobenen Vorwürfe nicht aufrecht erhalten haben. In den verbleibenden Fällen ist jedoch eine Bereitschaft Benedikts XVI., das eigene Handeln und die eigene Rolle selbstkritisch zu reflektieren und (zumindest Mit-)Verantwortung für Unzulänglichkeiten in den Reaktionen sowohl gegenüber den Beschuldigten als auch den Geschädigten zu übernehmen, für die Gutachter nicht erkennbar.

Vielmehr werden von ihm auch heute noch vor allem die Stereotype angeblich fehlender Sachverhaltskenntnis und des vermeintlichen Zeitgeistes bemüht und das Agieren der aus seiner Sicht damaligen Verantwortlichen als nach seinerzeitigen Maßstäben angemessen qualifiziert.

Dass Unkenntnis selbst dann noch behauptet wird, wenn dies, wie insbesondere im Fall 40, mit den im Rahmen der Akteneinsicht zur Verfügung gestellten Unterlagen aus Sicht der Gutachter nur schwerlich in Einklang zu bringen ist, ist für die Gutachter gleichermaßen erstaunlich und aufschlussreich. […] Hinzu tritt, dass die konsequent behauptete Unkenntnis derjenigen Praxis widerspricht, die seitens der Gutachter sowohl bei den Vorgängern als auch den Nachfolgern Kardinal Ratzingers im Amt des Erzbischofs von München und Freising festgestellt werden konnte. Diese waren über Missbrauchs(verdachts)fälle jedenfalls in einem deutlich weitergehenden Umfang unterrichtet worden als dies Papst em. Benedikt XVI. nun von sich behauptet.

Dass Unkenntnis selbst dann noch behauptet wird, wenn dies, wie insbesondere im Fall 40, mit den im Rahmen der Akteneinsicht zur Verfügung gestellten Unterlagen aus Sicht der Gutachter nur schwerlich in Einklang zu bringen ist, ist für die Gutachter gleichermaßen erstaunlich und aufschlussreich.“

Folgt man jedoch seinen Einlassungen, so entsteht aus Sicht der Gutachter vor allem in Fällen einer bereits früher oder anderenorts erfolgten einschlägigen Verurteilung der Eindruck, dass dieses Faktum durchaus bekannt war, aber man auf der Leitungsebene regelrecht die Augen davor verschlossen hat, was der Verurteilung zugrunde gelegen hat. Die Gutachter halten diese Darstellung für wenig realitätsnah. Diese erscheint den Gutachtern umso weniger plausibel als dem Diözesanbischof nicht zuletzt aufgrund der anderweitig betonten sakramentalen Grundlegung und Eigenart des Verhältnisses zu den ihm in besonderer Weise anvertrauten Priestern eine spezielle Fürsorgepflicht diesen gegenüber obliegt. […]

Erhebliche Vorbehalte bestehen auf Seiten der Gutachter auch, soweit die Berufung auf einen angeblichen „Zeitgeist“ oder auf ein „damaliges Wissen“ das die Geschädigtenperspektive gänzlich negierende Verhalten auch des damaligen Erzbischofs Kardinal Ratzinger rechtfertigen soll. An dieser Stelle soll weder nochmals vertieft auf Verursachungsbeiträge der Kirche für diesen geschädigtenfeindlichen Zeitgeist eingegangen werden noch darauf, dass der Zeitgeist kirchlicherseits sich sonst keiner vergleichbaren „Wertschätzung“ erfreut. […]

Ende der 1970er / Anfang der 1980er Jahre setzte, wie dargestellt, bereits das aufkommende Bewusstsein um die weitreichenden Folgen von Sexualstraftaten, insbesondere für Kinder und Jugendliche, ein. Im Ergebnis handelte es sich daher auch zur damaligen Zeit um ein Thema, das die Öffentlichkeit durchaus beschäftigte. Die kirchlichen Verantwortungsträger, insbesondere auch der damalige Erzbischof Kardinal Ratzinger, haben diese Entwicklung entweder nicht zur Kenntnis genommen oder vor dieser möglicherweise aus Gründen, über die hier bewusst nicht spekuliert werden soll, sogar bewusst die Augen verschlossen.

Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass – wie in zumindest einem Fall dokumentiertermaßen geschehen – Missbrauchstäter jedenfalls in erheblichem Umfang Wiederholungstäter sind, trägt damit die damalige Diözesanleitung und insbesondere auch der damalige Erzbischof Kardinal Ratzinger mit dieser passiven Haltung nach Meinung der Gutachter eine zumindest moralische Mitverantwortung für das Risiko, dass es zu weiteren Missbrauchshandlungen und davon Geschädigten kommt; dies nicht zuletzt auch dadurch, dass eine Kultur des Wegsehens und Verharmlosens perpetuiert wurde.

Entgegen einer anderweitig und auch von Papst em. Benedikt XVI. vertretenen Auffassung kann den damaligen Erzbischof Kardinal Ratzinger nicht entlasten, dass während seiner Amtszeit (vermeintlich) klare Regelungen im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger fehlten. […] Hinzu tritt im Übrigen, dass von demjenigen, der mit umfassender Leitungsmacht über die gesamte Erzdiözese ausgestattet ist, auch erwartet werden darf und muss, sich erforderlichenfalls die notwendigen Kenntnisse zu beschaffen oder im Rahmen der ihm als Erzbischof zukommenden gesetzgeberischen Gewalt für die notwendige Klarheit zu sorgen.

Dass dahingehende Anstrengungen unternommen wurden, jedoch erfolglos geblieben sind, wird auch von Papst em. Benedikt XVI. gerade nicht behauptet. Im Fall unterstellter Unkenntnis dieser Regularien hätten die allgemeinen kirchenstrafrechtlichen Bestimmungen (des CIC/1917) Anwendung gefunden, deren Geltung auch während der Amtszeit des damaligen Erzbischofs Kardinal Ratzinger nicht ernsthaft in Abrede gestellt werden kann, obgleich seitens Papst em. Benedikt XVI. ein insoweit untauglicher Versuch unternommen wird.“

kna