Auch als Reaktion auf das am Donnerstag veröffentlichte Essener Missbrauchsgutachten wollen Betroffene und Kirchen-Initiativen wie Maria 2.0 am Freitagnachmittag in Essen ein Zeichen setzen.
Essen – Auch als Reaktion auf das am Donnerstag veröffentlichte Münchner Missbrauchsgutachten wollen Betroffene und Kirchen-Initiativen wie Maria 2.0 am Freitagnachmittag in Essen ein stilles Zeichen setzen. Sie versammeln sich um 16 Uhr auf dem Burgplatz: aus Solidarität mit den Opfern und Protest gegen die schleppende Aufklärung und fehlende Bestrafung der Täter. Wenn es dämmert, wollen sie Kerzen aufstellen für jene, die nicht über das sprechen können, was ihnen angetan wurde, und für jene, die ihr Leiden und ihr Leben beendet haben. „Das Kerzenlicht steht dafür, dass wir sie aus dem Dunklen ins Licht holen“, sagt Markus Elstner.
Der Initiator der Aktion vor dem Essener Dom wurde als Kind in Bottrop von Kaplan Peter H. missbraucht. Der Geistliche wurde nach Essen versetzt und von dort 1980 weiter ins Erzbistum München. Jahrzehntelang sah die Kirche über die Taten des Priesters hinweg, versetzte ihn mehrfach. Der Fall des Peter H. steht im Mittelpunkt des Münchner Missbrauchsgutachtens. Die Gutachter fertigten zu ihm einen 350-seitigen Sonderband. 2020 kehrte H. als 72-Jähriger Pensionär in sein Heimatbistum Essen zurück. Hier lebt er nun unter kirchlicher Aufsicht und engmaschig begleitet von Therapeuten und Sozialbetreuern. Für viele seiner Opfer ist das eine Provokation. Bischof Franz-Josef-Overbeck und Gernaralviker Klaus Pfeffer werden bei der Veranstaltung teilnehmen, teilte das Bistum Essen Neues Ruhrwort auf Anfrage mit.
Das Gutachten thematisiert unter anderem die Verantwortung von Kardinal Joseph Ratzinger, dem emeritierten Papst Benedikt XVI.. 1980 hatte Ratzinger als Erzbischof von München und Freising über die Aufnahme eines Essener Priesters in sein Bistum entschieden, der zuvor in Essen und Bottrop Jungen sexuell missbraucht hatte.
Overbeck: Münchener Gutachten muss Konsequenzen für den Alltag haben
In der Diskussion um das neue Missbrauchsgutachten des Erzbistums München und Freising hat Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck die individuelle Verantwortung in der Leitung der Kirche betont: „Wir sehen heute deutlich, dass Verantwortung übernommen werden muss – und Verantwortung ist immer personal.“ Nun gehe es darum, „dass sich auch der Vatikan, dass sich auch Papst Benedikt dazu verhält“, sagte Overbeck am Donnerstagabend in einem „ZDF Spezial“.
Overbeck betonte, das Gutachten müsse „Konsequenzen für den Alltag“ haben. Er verwies auch darauf, dass im Bistum Essen und in der gesamten katholischen Kirche in Deutschland in den vergangenen Jahren viel hinsichtlich der Prävention von sexualisierter Gewalt passiert sei. „Hier haben wir viel getan, um das zu verhindern, was zu diesem Desaster geführt hat“, sagte Overbeck mit Blick auf den Missbrauchsskandal. Das Münchner Gutachten bedeute wie die anderen Gutachten „eine große Aufgabe für uns“. Dabei verwies er auch auf den Synodalen Weg, der mit seinen teilweise heftigen Diskussionen ein erster Schritt sei, „um Perspektiven zu eröffnen“.
Generalvikar Pfeffer: „Den Betroffenen zuhören und Ihnen Glauben schenken“
Deutliche Worte fand auch der Essener Generalvikar: „Die Vorstellung des Gutachtens in München war ein weiterer Tiefpunkt für die katholische Kirche – und für das Bistum Essen, weil der furchtbare Missbrauchsfall eines Essener Priesters im Mittelpunkt steht. Hätten die Verantwortlichen unseres Bistums Ende der 70er Jahre gleich nach Bekanntwerden der ersten Missbrauchstaten die betroffenen Kinder im Blick gehabt, den Täter konsequent aus dem Verkehr gezogen und die Staatsanwaltschaft eingeschaltet, wäre unendlich viel Leid verhindert worden.“ Aber das sei nicht geschehen.
„Weil sich damals niemand von den Verantwortlichen für das Leid interessierte, das Kindern zugefügt wurde. Weil es darum ging, zu verschweigen, zu vertuschen – und völlig überzogene Kirchen- und Priesterideale zu schützen“, so Pfeffer „Mit jedem neuen Gutachten tun sich weitere Abgründe auf – und heute ist der Abgrund besonders tief. Wer in der katholischen Kirche auch nach diesem Tag immer noch glaubt, es brauche keine wirklich radikalen Veränderungen, hat nichts, hat wirklich gar nichts begriffen. Es braucht Konsequenzen, radikale Konsequenzen.“
Der Essener Generalvikar Pfeffer nannte das Münchener Gutachten im „ein sehr deutliches Signal für die katholische Kirche, endlich Schluss damit zu machen, Verantwortlichkeiten nicht klar zu benennen“. Zugleich müsse die Kirche noch viel stärker als bisher „den Betroffenen zuhören und Ihnen Glauben schenken“, unterstrich Pfeffer ähnlich lautende Empfehlungen der Münchener Gutachter. Ihn selbst hätten die Begegnungen mit Betroffenen sexuellen Missbrauchs in den vergangenen Jahren sehr verändert: „Das geht schon sehr unter die Haut – und das lässt auch mich manchmal an meiner eigenen Kirche verzweifeln.“
Betroffenenbeirat: Verantwortliche müssen Konsequenzen ziehen
Der Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz fordert unterdessen klare Konsequenzen aus dem neuen Missbrauchsgutachten im Erzbistum München-Freising. Wenn die katholische Kirche nach dem „nun bekannten Offenbarungseid“ von Benedikt XVI. nicht noch den „allerletzten und verbliebenen Rest ihrer Glaubwürdigkeit verlieren“ wolle, müssten die Verantwortlichen „jetzt und sehr mutig“ handeln, sagte Sprecher Johannes Norpoth am Donnerstag der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Konkret forderte er den Ständigen Rat der Bischofskonferenz, den Hauptausschuss des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) und die dritte Synodalversammlung des Reformprojekts Synodaler Weg zum Handeln bei ihren Sitzungen in den nächsten Wochen auf. Wie vom Betroffenenbeirat erwartet, biete das neue Gutachten auf den ersten Blick keine substanziellen neuen Erkenntnisse zu sexuellem Missbrauch in der Kirche. Eine „endgültige Bewertung“ könne zwar erst nach vollständiger Lektüre des umfangreichen Gutachtenwerkes erfolgen. Deutlich geworden sei aber bereits eine „Verantwortungslosigkeit, die diverse Hierarchieebenen im Erzbistum München und Freising bei einer Vielzahl von Fällen an den Tag legten“.
„Unfassbare Empathielosigkeit den Opfern und Überlebenden der sexuellen Gewalt gegenüber“
Zudem nannte Norpoth eine „bis heute andauernde unfassbare Empathielosigkeit den Opfern und Überlebenden der sexuellen Gewalt gegenüber“ sowie eine „Unfähigkeit, eigene Verantwortung anzuerkennen und zu übernehmen“. Von besonderer Bedeutung sei außerdem, dass dies „nicht nur Hierarchieebenen der deutschen Kirche betrifft, sondern im Zentrum der Kritik auch der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation und spätere Papst Benedikt steht“.
Die Begründungen und Argumentationen ließen nicht nur die Betroffenen sexueller Gewalt, sondern viele Mitglieder der katholischen Kirche „nahezu ratlos und wütend zurück“, so Norpoth: „Da relativiert das emeritierte Kirchenoberhaupt sexuelle Gewalt; da wird Mitwisserschaft weiterhin abgestritten, obwohl mehr als deutlich wird, dass Benedikt Kenntnis von den Vorgängen gehabt haben muss“.
Besonders erschreckend sei darüber hinaus die Aussage der Gutachterin Marion Westpfahl, wonach sie seit dem ersten Gutachten von 2010 bei keinem der Beteiligten auf Seiten der Bistumsverantwortlichen eine veränderte Haltung wahrgenommen habe: „Wieviel Gutachten braucht es denn noch, damit endlich gehandelt wird, damit endlich Verantwortung für die Zukunft übernommen wird?“, fragte Norpoth.
Katsch: Lügengebäude um emeritierten Papst zusammengebrochen
Der Sprecher des Eckigen Tisches, Matthias Katsch, sieht das um den emeritierten Papst Benedikt XVI. aufgebaute Lügengebäude um einen klerikalen Missbrauchstäter zum Einsturz gebracht. Mit Blick auf das am Donnerstag veröffentlichte Gutachten zu Missbrauchsfällen in der Erzdiözese München und Freising sagte Katsch der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), es sei nun klar, dass Joseph Ratzinger als Erzbischof von München und Freising mitverantwortlich sei. So habe er 1980 entschieden, einen wegen Missbrauchs beschuldigten Priester aus der Diözese Essen im Erzbistum aufzunehmen.
Er sei ziemlich mitgenommen von der Vorstellung, dass durch die Entscheidung, den Täter nach München zu holen, so viele noch zu Opfern geworden seien, sagte Katsch. Diese Opfer hätte es nicht gegeben, wenn anders verfahren worden wäre: „Natürlich sind auch noch im Nachgang viele Fehler gemacht worden, aber diese eine Entscheidung hat alles Weitere nach sich gezogen.“
In seiner Klarheit eine neue Qualität
Die horrenden Zahlen der Opfer seien eigentlich nichts Neues gewesen, erklärte Katsch. Auch von der Verantwortungslosigkeit an der Spitze habe man gewusst. Dennoch habe die Art und Weise, wie das Gutachten von der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl präsentiert worden sei, in seiner Klarheit eine neue Qualität. „Wir hoffen sehr, dass die Erschütterung, die nicht nur ich gespürt habe in dem Moment dazu beiträgt, dass da jetzt was Neues aufgebaut wird.“ Dass in der Kirche alle so weiter machten wie bisher, funktioniere nicht mehr.
Alle Münchner Bischöfe und Kardinäle nach 1945 hätten sich in der Erhebung Fehler zurechnen lassen müssen, erinnerte Katsch. Das zeige, es gebe einen Fehler im System. Wenn dieses aber gründlich gescheitert sei, könne nicht versucht werden, das Alte künstlich am Leben zu erhalten. Eigentlich müsste jetzt die Konsequenz sein, dass alle zurücktreten und neue Leute „den Laden“ übernehmen. Das Rücktrittsangebot des Münchner Kardinals Reinhard Marx im Juni 2021 habe er so verstanden, dass dieser die politische Verantwortung hätte übernehmen wollen, um einen Neuanfang ohne ihn zu starten. Wenn Marx konsequent wäre, müsste er sein Angebot erneuern, findet Katsch.