Das Wasser geht, die Verunsicherung bleibt: Altena ein Jahr nach dem verheerenden Hochwasser.
Altena – „Hochwasser ist in Altena normal“, sagt Diakon Ulrich Slatosch. „Drei bis fünf Mal im Jahr ist die Innenstadt überflutet.“ Doch der 14. Juli 2021 ist anders: „Ich war im Homeoffice und habe mittags bemerkt, dass die Straße Richtung Lüdenscheid halbseitig überschwemmt war.“ Seit 60 Jahren wohnt er in der Kleinstadt im Märkischen Kreis. „Doch das hatte ich noch nie erlebt.“ Er ruft seine Frau an: „Sieh zu, dass du nach Hause kommst – wenn das so weitergeht, kommst du nicht mehr durch.“ Und es geht so weiter. Mehr noch: Der Regen wird derart stark, dass ein rund 2,5 Meter breiter Bach auf 50 Meter anschwillt. „Das war unvorstellbar.“ Es sollte eines der verheerendsten Hochwasser werden, das die Stadt je erlebt hat.
Als Sandra Schnell an diesem Morgen aufsteht, ahnt sie nicht, was sie erwartet: „Die Geschehnisse haben uns völlig überrumpelt.“ Sie ist Pfarrbeauftragte der Pfarrei St. Matthäus in Altena, wohnt im nahen Hagen. „Die Lage stellte sich sehr unterschiedlich dar“, erinnert sie sich. „Im Tal wirkte es bereits bedrohlich, auf dem Berg war es ok.“
Kein Durchkommen nach Altena
Am Mittag des 14. Juli hat sie eine Beerdigung. „Nach Altena bin ich schon nicht mehr durchgekommen, um meine Sachen zu holen.“ Sie will die Bestattung verschieben. „Wieso?“, entgegnen die Angehörigen. „Es regnet doch nur ein bisschen.“ Sie lässt sich breitschlagen und fährt zum Friedhof. „Mein Gewand hatte ich nicht dabei“, berichtet sie. „Auch kein Weihwasser, das habe ich mir selbst geweiht – was sollte ich denn machen?“ Die Zeremonie wird sie nie vergessen. „Es regnete in Strömen – und inmitten dieses totalen Chaos habe ich die Beerdigung gemacht.“ Zurück zu Hause ruft sie ihren Mann an, der in Marl arbeitet: „Du kommst jetzt sofort nach Hause, sonst kommst du nicht mehr durch.“ Dieser muss sich einen halben Tag Urlaub nehmen. „Sein Arbeitgeber hat nicht eingesehen, warum er wegen Regens früher gehen musste.“
Auch Hagen wird von der Flut getroffen. „Unser Haus blieb verschont, aber um uns herum war alles überflutet.“ Sie bekommt die Naturgewalt am eigenen Leib zu spüren: „Wir hatten keinen Strom und kein fließendes Wasser.“ Kaffee kochen, die Toilette abziehen… – alles nicht möglich. „Das war schon eine ganz schöne Einschränkung“, sagt sie. „Schließlich wussten wir auch nicht, wann beides wieder funktioniert.“ Das Wasser für das WC schöpft sie mit einem Eimer an der überfluteten Straße. Die Nachbarn versorgen die Familie Schnell mit Trinkwasser. „Nach gut zwei Tagen war die Versorgung wieder hergestellt.“
Am Samstag nach der Flut bricht sie gen Altena auf, um nach dem Rechten zu sehen. „Die Rettungskräfte haben mich durchgelassen“, erinnert sie sich. „Die Straßen waren eine Katastrophe.“ Im Schneckentempo tuckert sie durch den Ort. Glück im Unglück: „Die Kirche war verschont geblieben“, erzählt sie. „Ich bin nur kurz geblieben, um die Helfer nicht zu stören – bei uns Zuhause war ja auch Land unter.“
An anderen Stellen war jedoch kein Durchkommen möglich. „Auf die Bundesstraße nach Nachrodt waren 300 Tonnen Schotter und Schutt gespült worden“, erzählt Ulrich Slatosch. „Das musste erstmal bewegt werde.“ Slatosch ist Beauftragter für die Seelsorge in Feuerwehr und Rettungsdienst im Bistum Essen. Im Märkischen Kreis koordiniert er die Notfallseelsorge. Außerdem ist er Feuerwehrseelsorger in Altena und Diakon in der Pfarrei St. Matthäus.
Feuerwehrmann kommt ums Leben
„Gegen 15 Uhr wurde der Regen immer stärker, die Feuerwehr war im Dauereinsatz“, berichtet er. „Hauptverbindungsstraßen sind zu Flussbetten geworden.“ Gegen 17 Uhr erreicht ihn ein Anruf der Feuerwehr. „Ulrich, auf dich wartet eine schwierige Aufgabe“, sagt der Anrufer. „Ein Feuerwehrmann ist gerade ertrunken.“ Während er versucht, Menschen aus den Fluten zu retten, rutscht der Mann ab und wird von der Strömung erfasst. „Die anderen Feuerwehrleute konnten nur tatenlos zuschauen, wie ihr Kollege verstarb“, berichtet er. „Sie kamen selbst vom Einsatzort nicht weg und hatten Probleme, den Toten zu bergen – die Situation war dramatisch.“ Ein Rettungswagen rückt aus, wird jedoch von den Fluten weggetrieben. Ulrich Slatosch versucht am Telefon, die Männer zu beruhigen. „Das war eine der herausforderndsten Aufgaben, die ich im Laufe meiner Tätigkeit hatte.“ Auch ihn belastet die Situation emotional. „Bis nachts um zwei Uhr habe ich telefoniert.“
Die traurige Bilanz des 14. Juli: Altena ist zeitweise von der Außenwelt abgeschnitten. Straßen sind unpassierbar, Brücken beschädigt, die Bahnstrecke ist gesperrt. Zahlreiche Häuser sind komplett oder teilweise beschädigt. Neben dem Feuerwehrmann aus Altena kommt noch ein weiterer Feuerwehrmann im Märkischen Kreis ums Leben.
Nach der Flut beginnt für Anke Moll die Arbeit
Nach der Flut beginnt für Sozialarbeiterin Anke Moll und ihre Kolleginnen und Kollegen die Arbeit. Sie berät beim Caritasverband für das Kreisdekanat Altena-Lüdenscheid Schwangere und arbeitet in der allgemeinen Sozialberatung. „Die Hochwasserberatung kam noch obendrauf.“ Rund zwei Wochen nach der Flut ist sie erstmals wieder in Altena. „Zu diesem Zeitpunkt war bereits ein Krisenteam eingerichtet“, erinnert sie sich. „Mir war klar, dass einiges auf uns zukommt – und so war es auch.“
Acht Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas beraten Betroffene zu unter anderem Soforthilfen und stellen Spenden zur Verfügung. „In den ersten Monaten haben wir uns täglich getroffen, um uns auszutauschen“, berichtet sie. „Anders als in anderen Bereichen gab es noch keine klar strukturierten Abläufe – die mussten wir erst aufbauen.“
Bautrockner sind heiß begehrt. „Wir haben ein Verleih-System mitsamt Warteliste auf die Beine gestellt.“ Die Beraterinnen und Berater müssen sich kontinuierlich auf dem Laufenden halten, wie staatliche Hilfsprogramme beantragt werden können. „Da ist sehr viel zu lesen und es geht nur online.“ Für all jene, die kein Internet haben, richten Stadt, Caritas, Arbeiterwohlfahrt und Rotes Kreuz zwei Anlaufstellen ein, an denen die Betroffenen die Anträge stellen können. „Jede Frage war anders“ sagt Anke Moll, „und wir hatten nicht immer auf Anhieb die passende Antwort parat – das musste wachsen“.
Sie lernt unterschiedlichste Schicksale kennen. „Nach der belastenden Corona-Pandemie kam die Flut noch obendrauf“, sagt sie. „Das war extrem.“ Viele der Hilfesuchenden haben vor dem Hochwasser keine Berührungspunkte mit der Caritas. „Von der Rentnerin, die keine Ahnung hatte, wie man einen Online-Antrag stellt, bis hin zur Familie mit zwei Kindern, bei der die Frau hochschwanger war.“ Die Geschichten dahinter lassen sie nicht kalt „Die Menschen hatten gerade kurz nach der Flut großen Gesprächsbedarf – und es sind auch Tränen geflossen.“
Der Schein in Alena trügt
Rund ein Jahr später zeigt sich Altena idyllisch: Ruhig fließt die Lenne durch die Kleinstadt. An ihren Ufern sitzen die Menschen in Cafés, gehen ihrem Alltag nach. Seit Weihnachten fährt die Bahn wieder. Die gröbsten Schäden sind beseitigt.
Doch der Schein trügt. „Hinter der Fassade sieht es anders aus“, berichtet Stefan Hesse, Leiter des Caritasverbandes. „Viele Häuser sind noch im Rohbau.“ Es mangelt an vielem: „Baumaterial ist ebenso schwierig zu bekommen wie Handwerker.“ Sandra Schnell ergänzt: „Manche Straßen sind noch immer nicht befahrbar.“ Bis voraussichtlich 2030 wird es noch dauern, bis alle Schäden beseitigt sind, schätzt die Kommune. Den Schaden beziffert die Stadt auf über 100 Millionen Euro. „Und darin sind Privathaushalte nicht enthalten“, sagt Sandra Schnell. Auch das wird noch Zeit in Anspruch nehmen, prognostiziert sie. „Einige sind wieder in ihre Häuser gezogen, andere wohnen noch in der ersten Etage, weil im Erdgeschoss Land unter ist.“
Flut ist nach wie vor Thema
Für Anke Moll und ihre Kolleginnen und Kollegen ist die Flut nach wie vor Thema. „Bis Anträge durch sind oder ein Handwerker ein Angebot macht, können mehrere Wochen vergehen.“ Sie rechnet damit, dass sich die Verfahren bis 2023 oder 2024 hinziehen. „Außerdem bekommen wir Anfragen von Leuten, die wir noch nicht kennen.“ Bis heute hat die Caritas über 100 Haushalte über einen längeren Zeitraum beraten. „Darin sind nicht die telefonischen Beratungen und Sachspenden wie Bautrockner enthalten.“
Bei den Menschen hat die Katastrophe ebenfalls ihre Spuren hinterlassen. „Zunächst herrschte Aktionismus“, erinnert sich Ulrich Slatosch. „Gegen Weihnachten war dann das Gröbste beseitigt und die Betroffenen kamen zur Ruhe.“ Noch heute rufen Bewohnerinnen und Bewohner an, um sich seelsorgerische oder psychologische Hilfe zu holen. „Vor etwa vier Wochen hat sich ein Familienvater bei mir gemeldet“, berichtet er. „Er hat unaufhörlich an seinem Haus geackert und war jetzt vollkommen fertig.“ Der Diakon vermittelt ihn an einen Therapeuten. Von dem Erlebten gezeichnet sind auch die Helferinnen und Helfer. „Die Feuerwehrleute haben Hilflosigkeit erlebt – sie waren gegen die Fluten machtlos“, erklärt Ulrich Slatosch. „Die Einstellung, alles bewältigen zu können, ist weg, wenn ein 14-Tonnen-Fahrzeug samt Besatzung anfängt zu schwimmen.“
Flut geht Menschen unter die Haut
Die Pfarrei St. Matthäus veranstaltet im Laufe der vergangenen Monate Feste an besonders betroffenen Straßen. „Vor kurzem gab es ein großes Helferfest“, erzählt Sandra Schnell. Sowohl Helfer als auch Betroffene sollen „einfach einen schönen Tag verbringen“. „Bei diesen Gelegenheiten haben wir gemerkt, dass die Flut den Leuten richtig unter die Haut gegangen ist – das Erlebte ist nur so aus ihnen herausgesprudelt, wenn man sie angesprochen hat.“ Sie prognostiziert, „dass der Jahrestag hart wird“. „Die Menschen werden aufmerken und hoffen, dass so etwas nicht noch einmal passiert.“
Die Flut hat Altena verändert. „Auf der einen Seite haben die Menschen eine riesige Solidarität, auf der anderen Seite den Verlust von Heimat und Sicherheit erfahren“, sagt Ulrich Slatosch. „Wenn plötzlich die Lenne durchs Wohnzimmer fließt, obwohl man an einer vermeintlich sicheren Stelle wohnt – diese Erfahrung bleibt hängen.“