Misshandlungen indigener Kinder blieben in Nordamerika nicht nur auf Kanada beschränkt. Dort begann die Aufarbeitung zuerst. Im Vorfeld des Papstbesuchs rücken die Vorfälle südlich der Grenze, in den USA, in den Blick.
Thomas Spang
Washington – Donald Neconie ist 84 Jahre alt und kann nicht vergessen. Im Gegenteil – der Indigene vom Stamm der Kiowa und ehemaliger US-Marine erinnert sich noch genau an die Hölle, die er ab den späten 1940er-Jahren als Schüler an der „Riverside Indian School“ in Anadarko, 130 Kilometer südwestlich von Oklahoma, erlebte. „Jedes Mal, wenn ich Kiowa sprach, musste ich zur Strafe Lauge trinken.“
Was er zu sagen hatte, verfolgte Deb Haaland schweigend, aber sehr aufmerksam. Ihre Mutter ist Angehörige der Laguna aus New Mexico. Und Deb Haaland ist die Innenministerin der USA, die erste mit indigenen Wurzeln in der Geschichte der US-Regierung.
„Meine Vorfahren haben die Schrecken der Assimilierungspolitik in den Internaten ertragen, die dieselbe Behörde zu verantworten hat, die ich jetzt leite“, so Haaland. Ihr kürzlich erfolgter Besuch der Schule in Anadarko markierte den Auftakt einer auf ein ganzes Jahr angesetzten Rundreise an Orte, in denen die Regierung jahrzehntelang „Residential Schools“ für Indigene unterhielt.
Viele Internate unter katholischer Leitung
Mit Verspätung stellen sich die USA dieser Vergangenheit und wollen nun den Indigenen zuhören. Es geht um Hunderte Internate, an denen zwischen dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die späten 1960er-Jahre mehr als 100.000 indigene Kinder gequält und ihrer kulturellen Identität beraubt wurden. Viele standen unter Leitung der katholischen Kirche.
Brought Plenty von den Standing Rock Sioux verfolgt noch heute die Erinnerung an ihre Internatszeit in South Dakota. „Sie haben uns gezwungen, andere Mädchen mit nassen Handtüchern auszupeitschen.“ Geblieben ist ein bis heute quälendes Minderwertigkeitsgefühl, sagt sie.
In einem Bericht des US-Innenministeriums vom Mai ist die Rede von mindestens 500 Todesfällen an 19 Schulen. Die Zahlen sind vorläufig und könnten noch steigen. „Ausufernder körperlicher, sexueller und emotionaler Missbrauch, Krankheiten, Unterernährung, Überbelegung und mangelnde medizinische Versorgung“ gehörten demnach zum Alltag der Kinder. Es ist eine erste Bilanz des Schreckens der im Juni 2021 von Haaland beauftragten Untersuchungskommission. Das Gremium hat den Auftrag, die Todesumstände und die Verhältnisse an den Schulen klären zu lassen.
Inzwischen hat auch die katholische Kirche in den USA signalisiert, sich an der Aufarbeitung zu beteiligen. Die Stammesältesten fordern vorrangig die Öffnung der Kirchen- und Schularchive. Nur so könnten Verantwortliche identifiziert und die Identitäten der verstorbenen oder verschollenen Kinder festgestellt werden.
Die Bischöfe von Gallup in New Mexico und Oklahoma City in deren Bistümern überproportional viele Indigene leben, sind besonders involviert. Oklahoma hatte mit 76 die meisten „Indianerschulen“, gefolgt von 47 in Arizona und 43 in New Mexico.
Aufarbeitung in den USA hinkt der in Kanada hinterher
Die US-amerikanische Konfrontation mit einem Schandfleck der eigenen Geschichte hinkt der im nördlichen Nachbarn Kanada hinterher. Dort versucht schon seit Jahren eine Wahrheitskommission den Schulalltag in den „Umerziehungslagern“ zu rekonstruieren. Mehr als 150.000 Kinder haben sie durchlaufen.
Etwa 6.000 Kinder sollen nach jetzigem Kenntnisstand in den rund 130 kanadischen Residential Schools ums Leben gekommen sein. Im vergangenen Sommer schlugen die Empörungswellen hoch, als mehrere unmarkierte Grabstätten entdeckt wurden. Darin Überreste von Hunderten Kinderleichen.
In wenigen Tagen reist Papst Franziskus nach Kanada. Bei einem Besuch von Stammesältesten und kanadischen Bischöfen im März in Rom bat Franziskus um Vergebung. Die Oberhäupter der First Nations, der Metis und der Inuit fordern hingegen mehr. Eine Entschuldigung – und die soll der Papst bei seiner sechstägigen Rundreise auf kanadischem Boden aussprechen. Die Papstvisite dürfte deswegen auch von den US-Indigenen aufmerksam verfolgt werden.
Die „Riverside Indian School“, die Donald Neconie besuchte, existiert immer noch. Die Leitung hat jetzt das „Bureau of Indian Education“. Fast 800 Schüler von mehr als 75 Gemeinschaften werden heute dort unterrichtet – überwiegend von indigenen Lehrern. „Sie mag jetzt gut sein“, sagte Neconie zu Haaland, „aber damals war sie es nicht.“