Der Bundesstaat Maryland hat in einem Missbrauchsbericht Hunderte Fälle dokumentiert, in denen sich mehr als 150 katholische Geistliche im Erzbistum Baltimore an Kindern vergangen haben. Viele Täter sind bereits tot.
Baltimore – Die 1821 der heiligen Maria geweihte Basilika von Baltimore gilt als älteste Kathedrale der Vereinigten Staaten. Bis heute ist sie ein bedeutendes Gotteshaus und steht symbolisch für die institutionelle Basis des Katholizismus in Nordamerika. Die Geschichte des Nationalheiligtums in Baltimore erklärt, warum Papst Johannes Paul II. und Mutter Teresa die Kirche einst besuchten und wieso die US-Bischöfe dort zu ihren Jahreskonferenzen zusammenkommen.
Deshalb sind die 456 Seiten, die der Bundesstaat Maryland am Mittwoch über das Erzbistum Baltimore veröffentlicht hat, nicht nur ein weiterer Missbrauchsbericht unter vielen. Die Erzdiözese sei nicht mehr dieselbe wie im Zeitraum 1940 bis 2002, auf den sich die Untersuchung der Staatsanwaltschaft bezieht, versicherte Erzbischof William Lori in einer Stellungnahme. „Der strenge Schutz und die Transparenz heute entschuldigen aber nicht das frühere Versagen“, fügte er hinzu. Dieses habe zu einem „anhaltenden spirituellen, psychologischen und emotionalen Schaden“ für die Opfer geführt. Generalstaatsanwalt Anthony Brown sagte bei Vorstellung des Berichts, die Auswertung Tausender Seiten von Dokumenten und Aussagen von Hunderten Betroffenen habe „allgegenwärtigen, bösartigen und hartnäckigen Missbrauch“ zutage gefördert.
Leidtragende waren demnach mindestens 600 Kinder und Jugendliche, darunter viele Messdiener und Schüler kirchlicher Schulen. Zu den Tätern werden neben anderen Kirchenmitarbeitern mehr als 150 katholische Geistliche gezählt. In einer einzelnen Pfarrei in Catonsville, sind laut dem Maryland-Bericht zwischen 1964 und 2004 elf Missbrauchs-Priester aktiv gewesen. Ein einzelner Diakon konnte – offenbar weitgehend ungestört – mehr als 100 Kinder belästigen. In einem beispielhaften Fall sei ein Priester unter dem Vorwand einer Hepatitis-Behandlung vor Strafverfolgung geschützt worden.
„Das war nur die Spitze des Eisbergs“, sagt Teresa Lancaster, die selbst missbraucht wurde. „Es gibt viel, viel mehr Opfer, mit denen ich jeden Tag in Kontakt bin. Und eine Menge mehr Leid.“ Generalstaatsanwalt Brown schließt das nicht aus. Weitere Ermittlungen seiner Behörde sind in anderen US-Bistümern anhängig. Wie ein roter Faden ziehe sich durch die Geschichte der Betroffenen, „welche absolute Autorität und Macht diese Missbrauchspriester und Kirchenführer über die Opfer, deren Familien und Gemeinden hatten“. Dazu hätten das Verleugnen, Verschweigen und der Schutz der Täter gehört, die oft nur versetzt worden seien.
Die Opfer-Organisation SNAP verlangt von der Erzdiözese eine Erklärung, warum in der Auswertung Dutzende Beschuldigte aufgeführt seien, zu denen die Kirche bislang keine Angaben gemacht habe. Andere Betroffene werfen dem Erzbistums vor, es habe ein Gesetz verhindern wollen, das in Sachen Missbrauch die Verjährungsfrist für Zivilklagen in Maryland aufheben soll. Vergeblich. Am Tag der Veröffentlichung des Berichts verabschiedete das Parlament des Bundesstaats einen entsprechenden Entwurf. Gouverneur Wes Moore hat versprochen, ihn zu unterzeichnen.
Nur wenige der verantwortlichen Geistlichen oder Bischöfe sind jemals strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden. Erzbischof Lori reagiert angesichts des schwerwiegenden Versagens zerknirscht. Es sei für die meisten wohl kaum vorstellbar, dass so etwas geschehen sei. „Aber Überlebende überall wissen: Diese bösen Taten sind geschehen.“ Auch an der Wiege der katholischen Kirche in den Vereinigten Staaten.