Missbrauchsvorwürfe gegen verstorbenen Kardinal Franz Hengsbach

Gegen den Gründerbischof des Bistums Essen, Bischof Franz Hengsbach, sind gravierende Missbrauchsvorwürfe bekannt geworden, wie das Bistum Essen am Dienstag mitteilte. Angesichts dieser Vorwürfe befürchtet Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck mögliche weitere Betroffene und ruft diese auf, sich bei den unabhängigen Ansprechpersonen des Bistums zu melden.

Annahme Rücktrittsgesuch von Hengsbach durch Papst Johannes Paul II, Pressekonferenz 21.2.1991

Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck lässt gravierende Missbrauchsvorwürfe gegen den ersten Essener Bischof Franz Hengsbach untersuchen, die die 1950er- bis 1970er-Jahre betreffen. Dies teilte die Diözese  am späten Dienstagvormittag mit. Zwei Vorwürfe betreffen demnach Hengsbachs Zeit als Bischof von Essen, ein Vorwurf betrifft seine Zeit in Paderborn. Ein erster Vorwurf gegen Hengsbach als Essener Bischof aus dem Jahr 2011 wurde 2014 von der meldenden Person zurückgezogen. Nach Kenntnis eines weiteren, erst im vergangenen Herbst erhobenen Vorwurfs hat Bischof Overbeck darauf hingewirkt, diese Vorwürfe gegen Hengsbach zu veröffentlichen. Zudem ruft er nun mögliche weitere Betroffene auf, sich zu melden.

Aktenvermerk im Erzbistum Paderborn zu Hengsbach

Ausgelöst hatte die aktuellen Nachforschungen zu Hengsbach eine Person, die sich im vergangenen Oktober bei den beauftragten Ansprechpersonen des Bistums Essen gemeldet und zu Protokoll gegeben hat, dass sie im Jahr 1967 einen sexuellen Übergriff durch Hengsbach erlitten habe. Als Bischof Overbeck im vergangenen März von dieser Meldung erfuhr, hat er den Angaben zufolge nach Rücksprache mit Simon Friede, dem Interventionsbeauftragten im Bistum Essen, weitere Nachforschungen zu Kardinal Hengsbach veranlasst.

„Unter anderem erfolgte daraufhin die Anfrage an das Erzbistum Paderborn, dem Herkunftsbistum von Kardinal Hengsbach, ob im Aktenbestand weitere Meldungen zu Kardinal Hengsbach vorliegen“, sagte Overbeck. Als dies in Paderborn bestätigt wurde, nahmen Mitglieder des Essener Interventionsstabs Einblick in den Paderborner Aktenbestand. „Sie fanden dort einen Aktenvermerk, in dem Franz Hengsbach beschuldigt wird, im Jahr 1954 eine minderjährige Jugendliche sexuell missbraucht zu haben.“

Diesen 2011 erhobenen Vorwurf hatte das Erzbistum Paderborn noch im selben Jahr an die Kongregation für die Glaubenslehre weitergeleitet, der unter anderem für Missbrauchsfälle zuständigen Zentralbehörde der römischen Kurie. „Aufgrund der Zuständigkeit der Kongregation für die Glaubenslehre, sah ich den Vorgang als bearbeitet an“, so Overbeck. Er sei bereits damals über den Aktenvermerk in Kenntnis gesetzt und zudem mündlich über die Entscheidung der Glaubenskongregation informiert worden, dass der Vorwurf in Rom als nicht plausibel bewertet worden war.

„In Anbetracht des neuen Vorwurfs, der mir erst jüngst bekannt geworden ist, habe ich mich nach Rücksprache mit dem Interventionsstab und unter Berücksichtigung aller Kenntnisse dazu entschieden, die Vorwürfe gegen Franz Hengsbach öffentlich zu machen“, sagte Overbeck. Dabei sei ihm bewusst, „was diese Entscheidung, die ich nach gründlicher Abwägung der gegenwärtig zur Verfügung stehenden Erkenntnisse getroffen habe, bei vielen Menschen auslösen wird“. Hengsbach hat als Gründerbischof des Ruhrbistums für viele Kirchenmitglieder im Bistum Essen und für die ganze Region große Bedeutung..

Aufruf an mögliche Betroffene

Vor dem Hintergrund der Entscheidung, den Vorwurf aus dem Bistum Essen öffentlich zu machen, nennt Overbeck noch einen weiteren Fall, in dem allerdings der Vorwurf zurückgezogen worden ist. „Die damalige Missbrauchsbeauftragte hat auf diesen Vorwurf sehr professionell und umsichtig reagiert, nach Kenntnisnahme den Kontakt mit der Person gesucht, ihr Hilfsangebote gemacht und später ein Verfahren nach den damals geltenden Richtlinien eingeleitet“, erklärt Overbeck. Im Jahr 2014 habe die Person den Vorwurf jedoch auf eigene Initiative hin zurückgezogen. „Dieses Verfahren ist somit als abgeschlossen zu betrachten“, betont der Bischof.

„Ich hoffe, dass es uns bei allen Schritten, die jetzt anstehen, vor allem gelingen wird, stets die Perspektive der Betroffenen in den Vordergrund zu stellen“, hebt Bischof Overbeck hevor. Da nicht auszuschließen ist, dass es weitere Missbrauchsbetroffene gibt, ruft Overbeck Betroffene auf, sich zu melden: „Sollten Sie selbst sexualisierte Gewalt durch Kardinal Hengsbach erlitten haben, dann wenden Sie sich bitte an die beauftragten Ansprechpersonen im Bistum Essen. Das Gleiche gilt auch, wenn Ihnen Hinweise bekannt sind, die für die weitere Aufarbeitung hilfreich sein können.“

Der 1910 im sauerländischen Velmede geborene Hengsbach war seit Gründung des Ruhrbistums 1958 bis zu seinem Todesjahr 1991 der erste Bischof von Essen, zuvor hatte er das Erzbischöfliche Seelsorgeamt in Paderborn geleitet und war dort Weihbischof.

Stellungnahme zu den dem Erzbistum Paderborn bekannten Vorwürfen gegen Franz und Paul Hengsbach

Das Erzbistum Paderborn hat im März 2023 durch Anfrage des Bistums Essen von dort erhobenen Vorwürfen gegen Franz Kardinal Hengsbach, der bis November 1957 im Erzbistum Paderborn Diözesanpriester und später Weihbischof war, erfahren. Daraufhin sei der Interventionsstab des Bistums Essen der im Erzbistum Paderborn vorliegende Personalaktenbestand zu Franz Hengsbach zur Einsichtnahme zur Verfügung gestellt worden. Dieser Aktenbestand enthält einen Vorgang aus dem Jahr 2011, nach dem Franz Hengsbach und sein Bruder Paul Hengsbach, ebenfalls Diözesanpriester des Erzbistums Paderborn, gemeinsam beschuldigt werden, in den 1950er-Jahren eine minderjährige Jugendliche sexuell missbraucht zu haben. Damit liegt, bezogen auf das Erzbistum Paderborn, gegenwärtig eine Beschuldigung gegen die Person Franz Hengsbach vor; insgesamt zwei Meldungen betreffen Paul Hengsbach.

„Die heutige Kenntnis von weiteren Vorwürfen gegen Franz Hengsbach im Bistum Essen sowie die im Kontext der gemeinsamen Beschuldigung erfolgte Überprüfung der Personalakte von Paul Hengsbach im Erzbistum Paderborn erhöhen die Plausibilität früherer Vorwürfe und ziehen die damalige Einschätzung der Fälle in Zweifel“, heißt es in einer Stellungnahme der Erzbistums Paderborn. Die Bistumsleitung hat aus diesem Grund entschieden, die Sachverhalte, soweit die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen es erlauben, öffentlich zu machen.

„Im Juni 2011 meldete eine Frau dem damaligen Missbrauchsbeauftragten des Erzbistums Paderborn Beschuldigungen zu Missbrauchserfahrungen durch Franz und Paul Hengsbach, die sie im Jahr 1954 im Alter von 16 Jahren erlitten habe. Franz Kardinal Hengsbach ist im Jahr 1991 verstorben, sein Bruder Paul Hengsbach (verstorben 2018) bestritt im Juli 2011 bei einer Befragung im Erzbischöflichen Generalvikariat die Vorwürfe vehement. Die Beschuldigungen wurden aufgrund der Gesamtumstände im Ergebnis als nicht plausibel bewertet, wenngleich angemerkt wurde, dass sich die mutmaßliche Betroffene an die äußeren Umstände genau erinnere“, teilte die Erzdiöseze mit.

Zur weiteren Prüfung und Bewertung sei der Fall an die Kongregation für die Glaubenslehre in Rom übergeben worden. Diese entschied, angesichts des zur mutmaßlichen Tatzeit geltenden Strafrechts kein Strafverfahren einzuleiten. Durch das Erzbistum Paderborn erfolgte keine Weiterleitung des Antrags auf Anerkennung des Leids an die zentrale Koordinierungsstelle bei der Deutschen Bischofskonferenz. Der Sachstand der Fallbearbeitung wurde seinerzeit auch dem Bischof von Essen, Dr. Franz-Josef Overbeck, zur Kenntnis übermittelt.

Aus heutiger Perspektive und nach erneuter Prüfung des Personalaktenbestands von Paul Hengsbach, die mittlerweile auch durch Mitglieder der Unabhängigen Aufarbeitungskommission im Erzbistum Paderborn erfolgt ist, muss die damalige Plausibilitätsbeurteilung leider deutlich in Frage gestellt werden. Nach Aktenlage wurde gegen Paul Hengsbach bereits im Jahr 2010 durch eine weitere Frau eine Beschuldigung wegen sexuellen Missbrauchs erhoben, der Hengsbach in einer darauffolgenden Befragung ebenso widersprach. Der Fall wurde seinerzeit als nicht im Rahmen der damals gültigen Verfahrensbestimmungen greifbar eingestuft. Der Kongregation für die Glaubenslehre wurde er nicht vorgelegt. Nach einer Beschwerde durch die Betroffene und erneuter Prüfung wurden 2019 ein Antrag auf Anerkennung des Leids und 2022 ein Folgeantrag bei der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen eingereicht und positiv entschieden.

„Wären die beiden Paul Hengsbach betreffenden Beschuldigungen seinerzeit miteinander verknüpft betrachtet worden, hätte dies möglicherweise zu einer anderen Bewertung der Vorwürfe im Sinne der beiden betroffenen Frauen geführt“, so das Erzbistum Paderborn. So liege es aus heutiger Sicht nahe, dass den Frauen nicht nur Unrecht durch die Missbrauchserfahrung durch Diözesanpriester des Erzbistums, sondern auch Leid durch den Umgang mit ihnen und ihren berechtigten Anliegen widerfahren ist. Sofern die beiden betroffenen Frauen dies zulassen, möchte das Erzbistum Kontakt zu ihnen aufnehmen.

Um die Persönlichkeitsrechte beider Betroffenen zu schützen, bittet das Erzbistum um Verständnis, dass über diese Informationen hinaus keine weiteren Angaben zu den Fällen gemacht werden können. Mit beiden Fällen sind sowohl die Mitglieder der unabhängigen Aufarbeitungskommission als auch die Mitarbeitenden des unabhängigen Forschungsprojekts der Universität Paderborn betraut, die auch die Einordnung und Bewertung der Fallbearbeitung und des Vorgehens vornehmen werden.

Beauftragte Ansprechpersonen im Bistum Essen

Um Betroffenen sexualisierter Gewalt, die Missbrauch durch haupt- oder ehrenamtlich Tätige des Bistums Essen erleiden oder erlitten haben, die Hürde zur Kontaktaufnahme zu erleichtern, hat Bischof Franz-Josef Overbeck im Jahr 2021 ehrenamtliche Ansprechpersonen beauftragt. Jede Person, die von sexualisierter Gewalt in einer katholischen Einrichtung oder durch Mitarbeitende der Kirche betroffen ist, kann sich direkt an diese Ehrenamtlichen wenden. Sie sind von jeder Weisung unabhängig.

Monika Bormann | 0151-16 47 64 11 | monika.bormann@bistum-essen.de
Mechtild Hohage | 0151-57 15 00 84 | mechtild.hohage@bistum-essen.de
Martin Oppermann | 0160-93 09 66 34 | martin.oppermann@bistum-essen.de