Caritas, SkF und SKM baten in Essen zum Gespräch über die Nutzung öffentlicher Räume ein und fragten: „Mittendrin – außen vor. Wem gehört die Stadt?“

Vor St. Gertrud an der Rottstraße in Essen wurden die Armutswochen der Caritas in Deutschland eröffnet, die bis zum 19. November dauern. –Foto: Tim Frankenheim/SkF
Essen – 1992 haben die Vereinten Nationen den 17. Oktober zum Internationalen Tag der Beseitigung von Armut erklärt. Und Papst Franziskus hat zu diesem Tag erklärt: „Armut beseitigt man nicht mit großen Worten, sondern indem man die Ärmel hochkrempelt.“ Deshalb gingen die Caritas, der Sozialdienst katholischer Frauen und der SKM am 17. Oktober in der Essener Innenstadt auf die Straße. Caritas Mitarbeiterin Tanja Rutkowski führte durch ein zweieinhalbstündiges Programm.
Obwohl die herbstliche Witterung so manchen vor St. Gertrud an der Rottstraße frösteln ließ, blieben die allermeisten beim sozialpolitischen Open Air über die ganze Distanz mit von der Partie. Bei der Freiluftveranstaltung vor der Kirche, die seit Anfang des Jahres als Sozialstation für Menschen in sozial schwierigen Lebenslagen genutzt wird, ging es aus der Perspektive der materiellen Armut um die Frage: „Mittendrin und doch außen vor? Wem gehört die Stadt?“
Das Thema Armut, das zeigt sich nicht nur im öffentlichen Raum, wird in unserem angeblich so reichen Land gesellschaftspolitisch gerne verdrängt, weil es so gar nicht sexy oder Wählerstimmen- und Einschaltquotenbringend ist. Eine per Video eingespielte Straßenumfrage der Essener Kinderreporter gab erste Denkanstöße. Auf die Frage: „Wem gehört die Stadt?“ antworteten die von den Kindern befragten Menschen zum Beispiel: „Euch gehört die Stadt. Nein. Uns allen gehört die Stadt. Wir sollten friedlicher miteinander in unserer Stadt leben und netter zueinander sein.“ Vor allem der Wunsch nach mehr öffentlichen Räumen wie zum Beispiel nach Sitzbänken, Spielplätzen, öffentlichen Toiletten, begrünten Freiplätzen und einem Bürgerbegegnungszentrum wurden geäußert.
Nicht nur die Umfrage der Kinderreporter, sondern auch die Diskussion – zum Beispiel mit Essens Sozialdezernenten Peter Renzel, mit Andrea Land und Stefan Knorr sowie mit Jürgen Schneider von der Nationalen Armutskonferenz, mit dem Essener Weihbischof Hermann-Josef Schepers und mit Ute Besen, die ehrenamtlich für die Essener Bahnhofsmission arbeitet – machte deutlich, dass eine Stadt nur so menschlich und sozial ist, wie sie ihren Einwohnerinnen und Einwohnern, unabhängig vom Geldbeutel, öffentliche und damit von allen nutzbare Orte und Räume der Begegnung und des Verweilens zur Verfügung stellt.
Ehrenamtliche kommen morgens um 6.30 Uhr
Ins Bild und zum Thema der Veranstaltung passte, dass die Menschen, die soziale Dienste leisten und nutzen nicht nur miteinander ins Gespräch kamen, sondern sich auch miteinander stärkten. In bester Ökumene sorgte ein Team der Diakonie für das leibliche Wohl der Gäste vor St. Gertrud. So wurde deutlich, dass christliche Nächstenliebe nicht nur ein Wort ist, sondern auch handfest Leib und Seele zusammenhaltend durch den Magen geht.
Das machte auch Caritas-Sozialarbeiter Stefan Knorr von der seit 1995 bestehenden und an 365 Tagen im Jahr geöffneten Sozialstation deutlich, die nun, mittendrin in der Stadt Essen, in St. Gertrud täglich und 110 Mahlzeiten an die Frau und den Mann in Not bringt. Besonders beeindruckend war Knorrs Schilderung, wie die zur Sozialstation transformierte Kirche nicht nur Anlaufpunkt von Hilfesuchenden, sondern auch für inzwischen neun ehrenamtlich engagierte Menschen geworden ist die, zum Teil schon morgens um 6.30 Uhr dorthin kommen, um Menschen die zum Beispiel kein Obdach und Hunger haben, ein Frühstück oder ein Mittagessen zuzubereiten.
Mit Sorge sieht Knorr, „dass immer mehr Menschen in Zeiten von Altersarmut, Rente mit 67 und Niedrigrenten länger arbeiten müssen und deshalb keine Zeit und Kraft fürs Ehrenamt haben, das unsere Gesellschaft dringend braucht.“ Seine Kollegin Andrea Land vom Theresiahaus für wohnungslose Frauen sagt: „Armut ist in unserer Gesellschaft kein Randthema. Denn jeder fünfte ist von Armut betroffen.“ Land erlebt in ihrer Arbeit immer wieder, wie schnell Menschen durch einen Problem-Cocktail, etwa durch Krankheit, Trennung, Sucht, aus ihrer gewohnten Lebensbahn geworfen werden.
Die 38-Jährige Mareike, die nach einer Trennung in eine Depression abgerutscht war, hat im Theresiahaus wieder neuen Halt und neue Kraft fürs Leben gefunden. „Wir brauchen mehr Empathie und Verständnis. Denn Menschen, die durch eine Lebenskrise aus ihrer Lebensbahn geworfen worden sind, wissen oft gar nicht mehr, wo sie anfangen sollen, um mit ihren vielen Problemen fertigzuwerden. Und sie wissen oft gar nicht, wo sie Hilfe bekommen können“, erklärt Mareike. Im Theresia-Haus der Caritas hat sie die Hilfe bekommen, die sie braucht, um sich wieder selbst helfen zu können. Und so kann sie inzwischen tageweise wieder arbeiten und die Suche nach einer eigenen Wohnung in Angriff nehmen. Und Mareikes strahlendes Lächeln zeigt, was der Schriftsteller und Journalist Eugen Roth einmal so formuliert hat: „Ein Mensch ist wie verwandelt, wenn man ihn menschlich behandelt.“
Steigender Hilfebedarf übersteigt Kapazitäten
Andrea Land betont: „Es geht nicht nur um Geld. Es geht um soziale Teilhabe, die Menschen in öffentlichen Räumen erfahren, die sie unentgeltlich nutzen können und das nicht nur werktags, sondern auch an den Wochenenden.“ Wie ihr Kollege Knorr stellt sie einen steigenden Hilfebedarf fest, der die personellen und finanziellen Kapazitäten der Helfenden oft übersteigt. So hat das Theresia-Haus eigentlich nur 16 Plätze, aber aktuell 18 Bewohnerinnen. 30 Frauen stehen auf der Warteliste.
Einrichtungen, wie das Theresiahaus, daran lässt Andrea Land keinen Zweifel, „müssten größer sein, weil sie unentbehrlich sind, indem sie Frauen in Not davon abhalten, sich aus ihrer Notlage heraus in prekäre Beziehungen und Lebenssituationen hineinzubegeben, die sie in neue Not und Konfliktlagen bringen.
Essens Sozialdezernent Peter Renzel, vor seinem Wechsel ins Rathaus, selbst ein „Caritäter“, gehörte vor St. Gertrud nicht nur zu den Gefragten, sondern auch zu den Zuhörenden. Er machte deutlich, dass sein Dezernat derzeit an einem Konzept für öffentliche Toiletten und Duschräume arbeite, dass dem Stadtrat in den kommenden vier Monaten vorgelegt werden soll. Auch dieses Projekt, so Renzel, soll die Lebenssituation von wohnungslosen Menschen in der Stadt niederschwellig verbessern helfen. In der Caritas und den anderen Sozialverbänden sieht der Dezernent „wichtige und privilegierte Partner der kommunalen Sozialpolitik, weil sie die Interessen der Menschen in Not aus ihrer praktischen Erfahrung heraus anwaltlich und parteiisch vertreten.“
Die Sozialarbeiter Stefan Knorr und Jürgen Schneider sind sich einig, dass im Umgang mit von materieller Armut betroffenen Menschen ein gesellschaftlicher Mentalitätswechsel nötig sei, der „anerkennt, dass wir armen Menschen gerne helfen sollten und Einrichtungen wie das Theresia-Haus oder die Sozialstation St. Georg dauerhaft brauchen, weil sie für unsere Gesellschaft und deren Stabilität wichtig sind.“
Zum guten Schluss der sozialpolitischen Freiluftveranstaltung fand Ute Besen, ehrenamtliche Mitarbeiterin der Bahnhofsmission, kritische und versöhnliche Töne. Nachdem sie eine Reihe von Dingen, wie etwa zugeparkte Geh- und Radwege, fehlende Grünflächen, Spielplätze und Sitzbänke beklagte, machte sie deutlich, „dass wir aber Gott sei Dank in unserer Stadt viele hilfsbereite Menschen haben.“
Mut machte auch die Einschätzung von Weihbischof Ludger Schepers mit seiner Einschätzung, „dass Kirchen, die als Gottesdienstorte zu groß geworden sind als soziale Orte, wie etwa in Form der Sozialstation St. Gertrud oder auch als Kindertagesstätten, Pflegeheime, Mehrgenerationenhäuser oder Bürgerbegegnungszentren ganz im christlichen Sinn erhalten werden können.“