Aus der Geschichte lernen

In der katholischen Akademie Die Wolfsburg wurde darüber diskutiert, wie gefährdet die Demokratie in Deutschland ist.
Aus der Geschichte lernen

Diskutierten in der Wolfsburg über die Demokratie in Deutschland: Stefan Pätzold, Jens Oboth, Ann Kathrin Allekotte, Patrick Bahners und Thomas Weber. –Foto: Emons

Mülheim – Im Jahr 1933 löste die nationalsozialistische Diktatur die erste Demokratie auf deutschem Boden ab. Droht der Demokratie 90 Jahre danach wieder Gefahr von rechts? Eine Antwort auf diese Frage wurde jüngst im vollbesetzten Auditorium der Wolfsburg gesucht. Zusammen mit der katholischen Akademie hatte das örtliche Stadtarchiv zu der vom Akademiedozenten Dr. Jens Oboth moderierten Abendveranstaltung eingeladen. Der Zuspruch des generationsübergreifenden Publikums machte deutlich: Die Frage, wie es um unsere im Grundgesetz verfasste Demokratie bestellt ist, bewegt.

Aus dem Publikum kamen dazu kritische und kontroverse Stimmen. Ein Jurist hatte keinen Zweifel, dass die zurzeit im Umfragehoch befindliche Alternative für Deutschland (AfD) verfassungsfeindlich sei und deshalb verboten gehöre. Ein anderer Herr aus dem Publikum sah das ganz anders. Die AfD undifferenziert als rechtsextrem zu bezeichnen und sie in die Nähe der NSDAP zu rücken, stelle eine gefährliche Verharmlosung des Nationalsozialismus dar. Statt die AfD nur in die rechte Ecke zu stellen, sollten sich die anderen Parteien mit den von der AfD aufgeworfenen Fragen inhaltlich auseinandersetzen. Auch der Umgang mit Impfskeptikern während der Coronapandemie sei eher diffamierend als demokratisch und freiheitlich gewesen.

Eine Dame beklagte eine „zunehmende Intoleranz und Unfähigkeit, andere Meinungen auszuhalten“. Diese Tendenz führe dazu, „dass viele Menschen Angst davor hätten, mit ihrer Meinung öffentlich aufzutreten und sich politisch zu engagieren“. Ein anderer Teilnehmer der Veranstaltung kritisierte zu lange Diskussionen, die am Ende zu keinen politischen Entscheidungen führten. Die Folge sei eine  große Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Ein weiterer Herr aus dem Publikum mahnte in den Schulen mehr praktische politische Bildung an. Dazu gehöre nicht nur Politik und Geschichte, sondern dazu gehörten auch juristische Grundkenntnisse. „Die AfD wird doch nicht von den Schülerinnen und Schülern gewählt, sondern von den Erwachsenen“, hielt eine Dame dagegen.

Hochnäsigkeit führt zur Entfremdung

Und was sagte das Podium? Kulturredakteur Patrick Bahners von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung warnte die politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Elite vor einer intellektuellen Hochnäsigkeit, die zu einer Entfremdung breiter Bevölkerungsschichten und damit zu einer Schwächung der Demokratie führen könne. Seinem Publikum empfahl er die Lektüre des 1955 vom Politikwissenschaftler und Historiker Karl-Dietrich Bracher geschriebenen Buches „Die Auflösung der Weimarer Republik: eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie“. Hier werde anschaulich und gut verständlich erklärt, wie eine Demokratie zum Opfer der politischen Extreme werden könne. Anders als im Reichstag der Weimarer Republik, wo sich KPD und NSDAP zur Abschaffung der parlamentarischen Demokratie bekannt hätten, gebe es heute im Deutschen Bundestag keine Partei, die sich offen antidemokratisch gebe, was aber nicht heißen müsse, dass nicht auch von Parteien, die sich selbst als demokratisch verstünden, Gefahren für unsere Demokratie ausgehen könnten. Vor dem Hintergrund des mehrfach am Bundesverfassungsgericht gescheiterten NPD-Verbots warnte Bahners vor einer vorschnellen Diskussion über ein Verbot der AfD. Bahners: „Ein Parteienverbot braucht glasklare Beweise für eine Verfassungsfeindlichkeit. Und indem man eine Partei, deren Abgeordnete im Bundestag zum Teil üble Reden halten, verbietet, kann man ihren Wählerinnen und Wählern noch lange nicht ihre Meinung verbieten.“ 

Im Rückblick auf seine eigene Demokratie-Schule plädierte Bahners dafür, Kindern und Jugendlichen altersgerecht und spielerisch durch das Einüben demokratischer Spielregeln die Demokratie schon im Kindergarten und in der Grundschule nahezubringen und ihnen dabei zu zeigen, „dass Demokratie auch Spaß machen kann“.

Daran knüpfte auch Mülheims Bürgermeisterin Annkathrin Allekotte von den Grünen an. Sie stellte fest: „Wenn von Politikerinnen und Politikern die Rede ist, heißt es oft: die da oben. Dabei wird vergessen, dass Politikerinnen und Politiker Leute wie du und ich sind und jeder sich in unserer Demokratie politisch engagieren kann und auch politisch engagieren sollte.“ Viele Missverständnisse, so Allekotte, seien auch auf Unwissen zurückzuführen. Das stelle sie immer wieder fest, wenn Bürgerinnen und Bürger gar nicht wüssten, dass Kommunalpolitiker und Kommunalpolitikerin ehrenamtlich und, anders als Landtags- und Bundestagsabgeordnete, nicht hauptamtlich ihre Mandate wahrnähmen.

Für Gesellschaft und Demokratie eintreten

Allekotte: „Wir müssen den politischen Betrieb barriereärmer gestalten. Nicht jeder Arbeitnehmer hat die Zeit regelmäßig Abendtermine wahrzunehmen. Aber um besser in der Bevölkerung verankert zu sein und viele Menschen zu erreichen und mitzunehmen, müssen unsere Parlamente vielfältiger werden, um demokratisch betrachtet, wirklich einen Querschnitt unserer Gesellschaft zu bilden.“

Für Patrick Bahners steht fest: „Wenn wir eine sozialere Gesellschaft und bessere Politik wollen, müssen wir selbst wieder mehr eintreten und zusammen mit anderen etwas machen, ob in einer Partei, in einem Verein, in einer Gewerkschaft oder auch mal wieder in einer Kirche.“ Die Mülheimerin Annkathrin Allekotte kann sich vorstellen, „dass ein solcher Abend wie heute an einem Ort wie diesem ein guter Einstieg sein könnte, um zu erleben: Auch ich bin Demokratie und kann meine Meinungen und Ideen politisch wirksam einbringen.“

Für Jens Oboth ist „das neue Erlernen des fairen und toleranten miteinander Streitens und Diskutierens, verbunden mit einem Vertrauensvorschuss für meinen Gegenüber“, ein wichtiger Impuls für eine Renaissance der gelebten und geschätzten Demokratie.

Prof. Dr. Thomas Weber, der Internationale Politik und Geschichte an der Universität von Aberdeen (Schottland) lehrt, trat dafür ein, sich beim Lernen aus der Geschichte nicht nur auf das Jahr 1933 zu beziehen. Am Beispiel der politischen Entwicklung zwischen 1928 und 1935 zeigte Weber auf, dass Deutschland, Frankreich und die Niederlande zwar vergleichbare Verfassungen und Wahlrechtssysteme gehabt, aber dennoch eine unterschiedliche politische Entwicklung genommen hätten. Er warnte davor, Demokratie und Grundgesetz gleichzusetzen. Andere Nationen, wie zum Beispiel Frankreich, die Niederlande, Großbritannien oder die USA zeigten, dass Demokratie durchaus auch anders als in Deutschland organisiert und funktionieren könne.

Nach zwei Stunden Diskussion, in denen auch die Frage erörtert wurde, ob Volksabstimmungen, wie sie etwa in der Schweiz praktiziert werden, auch in Deutschland geeignet seien, die Lebendigkeit und Akzeptanz der Demokratie wieder zu stärken, resümierte der Historiker und Leiter des Mülheimer Stadtarchivs, Dr. Stefan Pätzold, in seinem Schlusswort: „Demokratie kann Spaß machen. Sie ist aber auch anstrengend und kompliziert und sie könnte auch anders funktionieren als bei uns.“

Thomas Emons