In der katholischen Kirche geht es Schlag auf Schlag: Der Papst schickt Sonderkommissare ins Erzbistum Köln, dann veröffentlicht er ein neues Strafrecht, und nun stellt der Münchner Kardinal Marx seinen Rücktritt in Aussicht.
In der katholischen Kirche geht es Schlag auf Schlag: Der Papst schickt Sonderkommissare ins Erzbistum Köln, dann veröffentlicht er ein neues Strafrecht, und nun stellt der Münchner Kardinal Marx seinen Rücktritt in Aussicht. Warum er und warum gerade jetzt? Diese Frage stellen viele Insider und auch Beobachter von außen nach dem überraschenden Rücktrittsangebot von Kardinal Reinhard Marx als Erzbischof von München. Die ersten Mutmaßungen sind die üblichen bei Rücktritten dieser Art: Ist er nicht in Wahrheit gesundheitlich angeschlagen? Und hat er nicht auch noch einige „Leichen im Keller“, was den Umgang mit Missbrauchsfällen in seinen beiden Bischofsstationen in Trier und in München angeht?
Marx: Nicht amtsmüde
Einen „toten Punkt“ macht Marx als Auslöser geltend, und in den ersten Agenturmeldungen klang dies wie eine Begründung für einen Rücktritt in auswegloser Resignation. Doch diese Erklärungsversuche greifen im Fall des angebotenen Marx-Rücktritts offensichtlich zu kurz. Bei einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz betonte er am Freitagnachmittag in München, er sei keineswegs amtsmüde und wolle weiter aktiv der Kirche dienen. Das deckt sich mit Tenor und Tonfall seines persönlichen Rücktrittsschreibens an den Papst und seiner schriftlichen Erklärung zu diesem Schritt. Nach den Gesetzen der Mechanik kommt nach einem toten Punkt oft ein „neues Momentum“. Theologisch gesprochen ist das die Auferstehung, und nicht weniger als eine Auferstehung erwartet Marx in seinem Schreiben an Papst Franziskus von der katholischen Kirche, und das nicht nur in Deutschland. Es ist daher kein Zufall, dass Marx das Schreiben ausgerechnet in der Zeit um Ostern verfasste – zu jener Zeit, in der Christen über das Wunder der Auferstehung nach dem Tiefstpunkt des Todes nachdenken.
Marx betont immer wieder, dass sein Rücktritt ein ganz persönlicher Schritt sei. Dennoch hat er mit diesem Schritt die moralische Latte für andere Bischöfe in Deutschland kräftig angehoben. Es genüge eben nicht, über Pflichtverletzungen und Gesetzesübertretungen zu sprechen, das reiche für einen Neubeginn nicht aus, so seine Botschaft. Die persönliche Verantwortung sei gefragt, ja ein Bischof müsse sogar für das Versagen seiner Vorgänger Verantwortung übernehmen, erklärte er bei der Pressekonferenz. Letztlich setzt Marx damit, gewollt oder nicht, alle katholischen Bischöfe zumindest indirekt unter Druck. Der Blick richtet sich auf einen Präzedenzfall am anderen Ende der Welt: Die katholischen Bischöfe in Chile haben im Jahr 2018 nach einem landesweiten Missbrauchsskandal dem Papst beinahe geschlossen ihren Rücktritt angeboten. Etliche davon nahm Franziskus an, einige bald, andere nach weiteren Überprüfungen.
Sternberg: Kardinal Marx sendet „Weckruf“ an deutsche Bischöfe
In Deutschland haben bisher der Erzbischof von Hamburg sowie zwei Kölner Weihbischöfe und nun auch der Münchner Erzbischof ihre Rücktritte angeboten. Die ersten drei, nachdem ihnen Pflichtverletzungen nachgewiesen wurden, und nun Marx noch vor der möglichen Veröffentlichung ähnlicher Nachweise in seinem Erzbistum. Ob weitere Bischöfe folgen werden oder ob die Deutsche Bischofskonferenz eines Tages auch die „chilenische Variante“ wählen könnte, ist letztlich keine entscheidende Frage mehr. Der Knoten der Verstrickung beginnt sich so oder so zu lösen.
Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Thomas Sternberg, geht davon aus, dass Kardinal Reinhard Marx mit seinem Rücktrittsgesuch ein Zeichen an die Bischöfe in Deutschland senden wollte. „Offenbar ist das Rücktrittsangebot vor allem als Weckruf an die Bischöfe zu verstehen“, erklärte er am Freitag laut einer Mitteilung des ZdK in Bonn. „Kardinal Marx spricht in seinem Brief vom institutionellen und systemischen Versagen der Kirche. Gleichzeitig macht er deutlich, dass es Bischöfe gibt, die dieses Element der Mitverantwortung und der Mitschuld der Institution nicht wahrhaben wollen“ und deshalb jeden Reform- und Erneuerungsdialog ablehnten. Der Schritt des Münchner Erzbischofs erschüttere ihn tief, so Sternberg. „Es geht der Falsche.“
Tiefe Krise der Kirche
Marx‘ am Freitag veröffentlichtes Rücktrittsgesuch an Papst Franziskus zeige, „in welch tiefer Krise die Kirche“ stecke, so Sternberg. Marx sei immer ein verlässlicher Partner des katholischen Laiengremiums gewesen. „Der von ihm mit ins Leben gerufene Synodale Weg ist der einzige gangbare, um die zarte Pflanze Vertrauen zu pflegen.“ Künftig gibt es nach Sternbergs Worten „eine Stimme weniger“, die den Reformanliegen in Rom Gehör verschaffe. Marx gehöre zum direkten Beraterkreis des Papstes und sei als ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz „Motor und Mitinitiator“ des Synodalen Weges in Deutschland gewesen. „Ich habe großen Respekt vor seiner Lebensleistung und seiner Fähigkeit, Kirche und Welt mit klarem Blick und kritischen Augen zu sehen.“
Sternberg würdigte Marx‘ Verdienste um die Sozial- und Gesellschaftspolitik seit den Anfängen seiner Berufstätigkeit. Als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz habe er auch im Bereich der Ökumene im Lutherjahr 2017 deutliche Zeichen gesetzt. Die Stimme des Kardinals sei „für die Wahrnehmung christlich fundierter Positionen unverzichtbar“. Marx sei sich aber auch im Klaren darüber, „dass für die Rückgewinnung der Glaubwürdigkeit die Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt in der Kirche Voraussetzung ist“. Die Begründung des Rücktrittsangebots von Marx zeige, „dass wir mit dem Synodalen Weg in Deutschland auf dem richtigen Weg sind“. Er, Sternberg, hoffe auf sein bleibendes Engagement – „in welcher Position auch immer“.
Franziskus muss nun vieles klären und entscheiden
Kardinal Reinhard Marx ist 67 Jahre alt. Seinen Rücktritt als Erzbischof von München und Freising aus Altersgründen müsste er frühestens in sieben Jahren anbieten, kurz vor dem 75. Geburtstag. Der Münchner Erzbischof ist auch nicht ernsthaft krank, hat seine Diözese nicht gegen die Wand gefahren oder sich schwerer Vergehen schuldig gemacht. All dies wären Gründe, die das Kirchenrecht für den Rücktritt eines Bischofs vorsieht. Insofern ist Marx‘ Angebot zurückzutreten ungewöhnlich. In Rom – und bei der Weltpresse – stößt die Meldung auch deshalb auf besonderes Interesse, weil Reinhard Marx immer noch als der starke Mann der katholischen Kirche in Deutschland wahrgenommen wird. „Bricht dort jetzt alles zusammen?“, fragen besorgte Vatikan-Beobachter auch mit Blick auf die Apostolische Visitation im Erzbistum Köln und die argwöhnisch beäugten Debatten im Synodalen Weg.
Der Papst hat nun drei schwierige Vorgänge auf seinem Schreibtisch liegen: das Erzbistum Köln, Kardinal Marx – und im Hintergrund den Synodalen Weg in Deutschland als Teil des universalen Synodalen Prozesses. Welche Entscheidungen er treffen wird, ist schwer einzuschätzen. Schwer zu sagen auch, inwieweit er sie gegeneinander abwägt, weil es um die beiden ortskirchlichen Schwergewichte in Deutschland mit Kardinalspurpur geht. Sicher ist: Franziskus und Marx schätzen einander. Auch wenn beide unterschiedliche Typen sind und nicht immer einer Meinung. Vor allem schätzt Franziskus es, wenn jemand nicht an seinem Amt klebt, Verantwortung übernehmen und Konsequenzen tragen will. Es scheint daher schwer vorstellbar, dass der Papst es Marx gestattet, sich ganz zurückzuziehen.
Komplexe Situation in Köln
Immerhin ist der Deutsche Leiter des vatikanischen Wirtschaftsrates und Mitglied im Kardinalsrat. Und auch wenn Marx den Papst „sehr“ bittet, „den Verzicht anzunehmen“, könnte Franziskus ihm dies verweigern, wie er es auch zunächst bei Kardinal Philippe Barbarin von Lyon tat. Dieser musste sich bereits wegen Missbrauchsvertuschung vor einem staatlichen Gericht verantworten, wurde aber freigesprochen. Ob der Papst ein Rücktrittsangebot annimmt, entscheidet er „nach Abwägung aller Umstände“, heißt es im Kirchenrecht. Er wird in Konflikt- oder Streitfällen neben dem Kirchenrecht auch die pastorale, politische Situation im Bistum oder die persönliche Lage der Betroffenen mitbedenken. Grund für einen Wechsel in der Bistumsleitung ist die Tatsache, dass „eine fruchtbare Ausübung des bischöflichen Amtes“ nicht mehr möglich oder die Einheit einer Diözese nicht mehr gewahrt ist.
Beides müsste für den Vatikan überzeugend nachgewiesen sein. Und solches behaupten derzeit nicht einmal Marx-Gegner in Medien oder unter seinen Mitbrüdern. Andererseits: Sollte der Papst den Rücktritt annehmen und Marx – der ja betont, er sei nicht amtsmüde – etwa an der Kurie auf einen wichtigen Posten hieven, bliebe der Kardinal Teil und Repräsentant des Systems, dessen Versagen er so kritisiert. In der Erklärung zu seinem Rücktrittsangebot spricht Marx sich klar für den Fortgang des Synodalen Weges aus, begrüßt dessen Einbindung in den vom Papst ausgerufenen, weltweiten Prozess. Das ist in Franziskus‘ Sinn. Zwar hadert der Argentinier mit der Organisationswut, dem Funktionalismus des Synodalen Weges in Deutschland. Aber es ist ihm recht, dass auch über systemische, institutionelle Fragen nachgedacht, gesprochen und darüber gebetet wird. Anders als andere Kritiker in Rom und in der Weltkirche sieht Franziskus selbst kein deutsches Schisma heraufziehen.
Die Situation im Erzbistum Köln samt der Personalien ist eine komplexere Materie. Hier wird der Papst sich von seinen Visitatoren und der Bischofskongregation zuarbeiten lassen. Den Brief von Marx hingegen bewegt er wohl noch einige Zeit weiter im Herzen und entscheidet zu gegebener Zeit. Denkbar, dass dies erst geschieht, wenn auch in München ein Gutachten zum Umgang mit sexuellem Missbrauch vorliegt.
rwm/Ludwig Ring-Eifel/Roland Juchem (KNA)
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