RKI-Chef Wieler kritisiert Ärzteverbände

RKI-Leiter Lothar Wieler hat Vorwürfe gegen Ärzteverbände erhoben. Diese verhinderten, dass auch Apotheker oder Tierärzte impfen dürften und bremsten so aus Eigennutz die Impfkampagne.
RKI-Leiter Lothar Wieler hat Vorwürfe gegen Ärzteverbände erhoben. Diese verhinderten, dass auch Apotheker oder Tierärzte impfen dürften und bremsten so aus Eigennutz die Impfkampagne. Berlin – Angesichts rasant steigender Inzidenzzahlen hat der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, zu einer "nationalen Kraftanstrengung" aufgerufen, um möglichst alle zu impfen. Impfstoff sei genug vorhanden, sagte Wieler im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Allerdings scheitere das "nicht zuletzt an der Vertretung der Ärzte und Ärztinnen", so der RKI-Chef.

Lothar Wieler.–Foto: RKI

Angesichts rasant steigender Inzidenzzahlen hat der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, zu einer “nationalen Kraftanstrengung” aufgerufen, um möglichst alle zu impfen. Impfstoff sei genug vorhanden, sagte Wieler im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Allerdings scheitere das “nicht zuletzt an der Vertretung der Ärzte und Ärztinnen”, so der RKI-Chef.

“Sie will nicht, dass Apotheker oder zum Beispiel Tierärzte oder Pensionäre impfen, und beruft sich auf das Standes- und Haftungsrecht”, beklagte er. “Auch wenn es vermutlich rechtliche und organisatorische Hindernisse geben würde: In der derzeit herrschenden Notlage finde ich schon bemerkenswertk, dass bestimmte Interessengruppen das Eigeninteresse offenbar über das Gemeinwohl stellen”, so der RKI-Chef.

Wieler wertet die Lage als dramatisch; die Infektionszahlen stiegen “nach wie vor rasant” Ohne drastische Einschränkung der Kontakte werde “die ärztliche Versorgung in vielen Krankenhäusern nicht mehr gewährleistet sein”. Weitere Teil-Lockdowns in bestimmten Regionen seien zwar politischen Entscheidungen; er sehe aber kaum eine Alternative.

Der RKI-Chef empfahl zugleich dringend die Auffrischungsimpfung. Sie stelle einen “qualitativen Sprung” dar, sei “deutlich wirksamer, sowohl gegen Erkrankungen wie gegen Übertragungen”.

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RKI-Chef Wieler: Auch Apotheker sollten Impfen können – „Nationale Kraftanstrengung nötig“ 

Angesichts rasant steigender Corona-Infektionen ruft der Präsident des Robert-Koch-Instituts Lothar Wieler (60) zu einer bundesweiten Impfkampagne auf; Impfstoff sei genug vorhanden. Im Interview forderte er von der Ärztevertretung, in der Notlage standesrechtliche Bedenken zurückzustellen.

Herr Professor Wieler, trotz aller Maßnahmen geht die Zahl an Corona-Infizierten durch die Decke. Hat das RKI versagt?

Wieler: Das RKI macht anhand wissenschaftlich fundierter Analysen Empfehlungen – gehandelt werden muss woanders. Wir haben diese vierte Welle ziemlich genau vorhergesagt. Auf die derzeitige Entwicklung haben wir bereits im Sommer hingewiesen und die Warnungen im Herbst verschärft. Wir sind aber durchaus enttäuscht und frustriert, dass die Empfehlungen nicht angemessen umgesetzt wurden.

Die Entwicklung war also vermeidbar?

Wieler: Wir sind sehenden Augen in die vierte Welle gegangen. Ich bin mir aber durchaus bewusst, dass Politiker in einem sehr schwierigen Abwägungsprozess stehen. Wir konzentrieren uns auf die Gesundheit; sie müssen vieles andere einbeziehen, etwa die Wirtschaft oder gesellschaftliche Akzeptanz. Ich beneide sie nicht um ihre Aufgabe.

Wo stehen wir derzeit in der vierten Welle?

Wieler: Die Situation ist dramatisch. Die Infektionszahlen steigen nach wie vor rasant. Wenn wir die Kontakte nicht drastisch einschränken, wird die ärztliche Versorgung in vielen Krankenhäusern nicht mehr gewährleistet sein.

Sind jetzt weitere Teil-Lockdowns in bestimmten Regionen zu erwarten?

Wiehler: Das sind politische Entscheidungen. Ich sehe aber kaum eine Alternative.

Wie hoch ist der Impfschutz, wenn es zu so vielen Impfdurchbrüchen kommt?

Wieler: Einen hundertprozentigen Schutz wird es nie geben. Aber die zugelassenen Impfstoffe sind sehr effektiv; sie reduzieren das Risiko für einen schweren Verlauf um rund 90 Prozent. Die Mehrzahl der Erkrankten und Patienten mit schwerem Verlauf sind derzeit eindeutig Ungeimpfte.

Allerdings lässt der Impfstoff nun auch nach.

Wieler: Das war wie bei anderen Impfstoffen zu erwarten. Nur der Zeitraum von sechs Monaten war nicht ganz klar, weil die Erfahrung mit diesen neuen Impfstoffen fehlte. Umso wichtiger ist nun die Auffrischungsimpfung. Auch hier hatten wir schon im Juli darauf hingewiesen, diese Impfungen zu planen.

Welche Rolle spielt die Delta-Variante?

Wieler: Sie treibt das Infektionsgeschehen, weil sie wesentlich ansteckender ist und eine wesentlich stärkere Viruslast mit sich bringen kann als das ursprüngliche SARS-CoV-2. Gemeinsam mit der nachlassenden Impfwirkung steigt deshalb wieder die Infektionsgefahr. Daher hat die Ständige Impfkommission die Empfehlungen angepasst und empfiehlt die dritte Impfung inzwischen allen Erwachsenen.

Für Genesene und Geimpfte ist also eine Rückkehr in die völlige Normalität noch nicht möglich?

Wieler: Nein, völlige Normalität nicht. Sie sollten etwa zumindest bei größeren Veranstaltungen und in Innenräumen die Hygieneregeln einhalten, also Maske, Abstand und Händewaschen.

Was bringt die Auffrischungsimpfung?

Wieler: Einen qualitativen Sprung. Sie ist deutlich wirksamer, sowohl gegen Erkrankungen wie gegen Übertragungen.

Wenn die jüngsten Maßnahmen von Bund und Ländern eingehalten werden, entspannt sich dann die Lage bis Weihnachten?

Wieler: In den Regionen mit hohen Inzidenzen kann ich mir das kaum vorstellen; da ist die Bremse wohl zu schwach. Im Norden und Nordwesten könnten wir die Zahlen bei konsequenter Anwendung niedriger halten.

Was sollte man beim Weihnachtsbesuch von Eltern oder Großeltern beachten?

Wieler: Man sollte sich vorbereiten. Wer Risiken verringern will, sollte geimpft oder genesen sein, vorher seine Kontakte möglichst einschränken und in den Tagen vor dem Besuch einen Test machen und außerdem immer die AHA-plus-L-Regeln beachten. Auch die Eltern oder Großeltern sollten unbedingt geimpft sein.

Werden Sie zu Weihnachten mit der Familie einen Gottesdienst besuchen?

Wieler: Das hängt von der Inzidenz ab. Die Gotteshäuser sind zwar leider oft nur noch zu Weihnachten und Ostern voll. In diesem Jahr macht das die Situation allerdings nicht einfacher. Ich weiche vielleicht auf einen anderen Tag mit weniger Besuchern aus.

Wenn aber auf alle Vorschriften geachtet wird, ist ein Gottesdienstbesuch vertretbar?

Wieler: Grundsätzlich schon, wenn sich die Gemeinde und die Besucher verantwortlich verhalten. Aber wie gesagt: Das hängt vom aktuellen Infektionsgeschehen ab, also von der Inzidenz. Entscheidend ist die Einhaltung und Kontrolle der Vorgaben. Wir haben ja die Empfehlungen der Control-COVID-Strategie vorgelegt: Sie reichen je nach Inzidenz von 3G mit Schutzkonzept, also Masken, Abstand, Einschränkung des Gemeindegesangs usw., über eine weitere Verringerung der Besucherzahlen bis zu 2G mit Schutzkonzept und bei hoher Inzidenz auch der Absage von Veranstaltungen.

Was ist beim gedrängten Weihnachtseinkauf zu beachten?

Wieler: Das hängt wiederum von der Inzidenz ab: von strengen Hygieneregeln bis zum Schließen bestimmter Orte. Entscheidend bleibt die Kontrolle. Wie Gemeinden reagieren, wird maßgeblich von der Belegung der Krankenhäuser und Intensivbetten abhängen.

Wieso ist die vierte Welle dann bislang die höchste?

Wieler: Vor allem, weil es mit 15 Millionen Menschen noch viel zu viele Ungeimpfte gibt, aber trotz dieser hohen Zahl an ungeimpften die Infektionsschutzmaßnahmen nicht mehr aufrecht gehalten wurden. Wenn es uns nicht gelingt, bis Neujahr mindestens die Hälfte zu impfen, wird es in absehbarer Zeit ziemlich sicher eine fünfte Welle geben.

Was wäre jetzt nötig?

Wieler: Kontaktbeschränkungen, um schnellstmöglich die Neuinfektionen zu senken. Und eine nationale Kraftanstrengung, um möglichst alle zu impfen. Wir haben genug Impfstoff. Allerdings scheitert das nicht zuletzt an der Vertretung der Ärzte und Ärztinnen. Sie will nicht, dass Apotheker oder zum Beispiel Tierärzte oder Pensionäre impfen, und beruft sich auf das Standes- und Haftungsrecht. Auch wenn es vermutlich rechtliche und organisatorische Hindernisse geben würde: In der derzeit herrschenden Notlage finde ich schon bemerkenswert, dass bestimmte Interessengruppen das Eigeninteresse offenbar über das Gemeinwohl stellen.

Von Christoph Scholz (KNA)