Wie sich das Lesen im digitalen Zeitalter verändert

Ein gutes Drittel der Menschen in Deutschland liest E-Books. Die Corona-Pandemie hat auch diesem Bereich der Digitalisierung einen Schub gegeben. Allerdings lesen Menschen am Bildschirm Experten zufolge anders als auf Papier.

–Symbolfoto:12138562/Pixabay

Im ersten Jahr der Corona-Pandemie boomten E-Books; Bücher dienten als Zeitvertreib und Trostspender. Das Umsatzplus für 2020 lag bei 16,2 Prozent. Im Folgejahr verlief das Wachstum gedrosselt; doch weiterhin kaufen, leihen und lesen viele Menschen hierzulande elektronische Medien, Tendenz steigend. Insbesondere Menschen unter 30 Jahren nutzen das digitale Bücherregal, wie eine Umfrage des Branchenverbandes Bitkom im Herbst ergab.

Als Vorteil von E-Books sehen viele, dass sie keine schweren Bücher herumtragen müssen – und dass neuer Lesestoff binnen Sekunden bereitsteht. Andreas Gold spricht von „Sekundärvorteilen“. Der Pädagogische Psychologe forscht seit Jahrzehnten zu Lesen, Lernen und menschlichem Gedächtnis. Er wirbt für eine „Sowohl-als-auch-Haltung“ bei gedrucktem Buch und E-Book. „Unterschiedliche Leseanlässe und -gelegenheiten gehen mit unterschiedlichen Lesemodalitäten einher“, schreibt er in seinem neuen Buch „Digital lesen – was sonst?“.

In einem Selbstversuch wollte die US-Leseforscherin Maryanne Wolf bereits vor einigen Jahren ihr Lieblingsbuch erneut lesen: „Das Glasperlenspiel“ von Hermann Hesse. Doch die Geduld dafür aufzubringen, fiel ihr schwer. Sie brauchte Wochen, bis sie nicht länger zu schnell oder zu oberflächlich las. Und sie vermutete, dass der Grund dafür jahrzehntelanges Lesen am Bildschirm war. Nicht nur sie persönlich, sondern die Gesellschaft als ganze drohe die kognitive Geduld zu verlieren, warnte Wolf.

Gold wirbt im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) für Gelassenheit: „Ich bin mir nicht sicher, ob wirklich der Bildschirm in diesem Fall der Schuldige ist. Vielmehr könnte das zweckorientierte Lesen selbst das Problem sein.“ Wer in Schule, Uni oder Beruf ständig Texte überfliegt oder sie nach bestimmten Informationen „scannt“, dem könne die Fähigkeit zum „Deep Reading“ abhanden kommen. Damit ist gemeint, sich wirklich auf einen möglicherweise komplizierten, sprachlich sperrigen Text einzulassen, in dieser Welt zu versinken. Also ein Teil dessen, was viele Menschen an Literatur lieben.

Das hängt nicht allein vom Lesemedium ab, wie Gold betont. Allerdings läsen Menschen am Bildschirm anders als auf Papier: „Insbesondere längere Sachtexte lesen wir am Bildschirm schneller, flüchtiger, unkonzentrierter und nicht so sorgfältig.“ Darunter leide das Textverständnis. Dagegen sei das Lesemedium für Romane weniger entscheidend. „Als Leserinnen und Leser bevorzugen wir dennoch bei der Unterhaltungslektüre eher das gedruckte Buch; Sachtexte für die Arbeit lesen wir am Bildschirm“, so der Experte. „Wir sollten es eigentlich genau umgekehrt machen.“

Er wirbt für bewusstes „Slow Reading“, um jener Flüchtigkeit entgegenzuwirken, zu der Menschen am Bildschirm offenbar neigen. Sinnvoll könne auch sein, Quellen der Ablenkung – etwa Benachrichtigungen von Nachrichtenseiten oder Sozialen Netzwerken – für die Zeit des Lesens zu deaktivieren. Kindern und Jugendlichen müsse man zudem beibringen, Quellen zu prüfen und Hypertexte sinnvoll zu nutzen, um sie so „zu kompetenten digitalen Lesern zu machen.“

Gold nennt weitere Vorzüge, die digitale Medien in Zusammenhang mit dem Lesen bieten können: So gibt es Plattformen für gemeinsame Textarbeit etwa im Klassenverband, für den Austausch über Lektüre oder für das Einstellen eigener Texte, die andere dann lesen und kommentieren können. Fachleute sprechen von „Social Reading“ beziehungsweise „Social Writing“. Auch könnten digitale Angebote etwa Kinder mit Lernschwierigkeiten gezielt unterstützen.

14 Prozent der Befragten gaben in der Bitkom-Umfrage an, zwar E-Books zu lesen, aber die Print-Version zu bevorzugen. Eine liebevolle Gestaltung, der Duft eines frischgedruckten Buchs, das Gefühl, etwas in Händen zu halten, vor- und zurückblättern und auf einen Blick erkennen zu können, wie viel man bereits hinter und noch vor sich hat – all dies nennen Menschen als Vorteile des gedruckten Buchs. Und ob Papier oder elektronisch: Laut Umfrage lesen insgesamt 85 Prozent der Menschen in Deutschland weiterhin Bücher.

Von Paula Konersmann (KNA)

Andreas Gold: Digital lesen – was sonst? Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023, 180 Seiten, 23 Euro.