Klaus Pfeffer: „Wir hätten früher mutiger sein können“

Generalvikar Klaus Pfeffer im Interview über Herausforderungen und Chancen für das Bistum Essen und die gesamte Kirche

Generalvikar Klaus Pfeffer (Foto: Achim Pohl | Bistum Essen)

 

Generalvikar Klaus Pfeffer im Interview über Herausforderungen und Chancen für das Bistum Essen und die gesamte Kirche

Generalvikar Pfeffer, wofür steht das Bistum Essen?

Klaus Pfeffer: Unser Bistum steht natürlich für das Ruhrgebiet. Diese Region wurde im vergangenen Jahrhundert ein ganz bedeutender Industrieraum. Dieser Identität auch von Seiten der Kirche gerecht zu werden und ihr eine Stimme zu geben, war ein Anliegen der Bistumsgründung. Mit Blick auf die Fläche ist dies nicht vollständig gelungen, weil die drei „Mutterbistümer“ darum gerungen haben, welche Gebiete sie abgeben, und welche Städte sie behalten. Der Autor Franziskus Siepmann hat dies in seinem gerade erschienenen Buch „Mythos Ruhrbistum“ sehr anschaulich beschrieben. So ist ein gemischtes Bistum entstanden aus einem großen Teil des Ruhrgebietes und einem Teil des ländlichen Raumes im Bergischen Land und im Sauerland. Es ist doch schön, dass wir eine solche Mischung haben.

Was bedeutet das konkret?

Klaus Pfeffer: Durch die nun 60-jährige Geschichte unseres Bistums hindurch sind wir geprägt von durchweg radikalen Veränderungen. Das reicht bis in die Gegenwart – Stichwort Pfarreientwicklungsprozesse. Zugleich verfügen wir hier über einen reichen Erfahrungsschatz, weil man sich in unserer Region eben mit Veränderungen auskennt. Von daher schauen viele aus anderen Bistümern in Deutschland im Moment sehr interessiert auf das, was hier bei uns passiert. Zugleich sind wird ein Stück Kirche, das eben sehr stark vom Ruhrgebiet geprägt ist, von seiner Mentalität. Die ist sehr geerdet, sehr bodenständig. Das zeichnet auch den Katholizismus bei uns aus, der einfach eine sehr große Nähe zu den Menschen hat, zum realen Leben. Und das gilt auch für die Sauerländer. Weil ich selbst aus dem Sauerland komme, weiß ich, dass die Sauerländer oft das Gefühl haben: „Wir gehören gar nicht so richtig dazu, die reden immer nur vom Ruhrbistum.“ Aber es ist mir ganz wichtig, dass sich die Gläubigen im ländlichen Raum nicht abgehängt fühlen. Sie sind ein wichtiger Teil dieses Bistums und bereichern uns ungemein! Vielen Hauptamtlichen oder Priestern, die ins Sauerland kamen, hat es so gut gefallen, dass sie dort geblieben sind.

Wenn viele Bistümer, von denen viele ja in ähnlichen Prozessen stecken oder darauf zugehen, mit so viel Interesse nach Essen schauen: Warum haben wir dann immer wieder – wie gegen Ende des vergangenen Jahres – die leidige Diskussion, das Bistum Essen werde gar nicht gebraucht und besser wieder aufgelöst?

Klaus Pfeffer: Dieses Thema taucht vor allem bei denjenigen auf, die im Moment so bitter enttäuscht sind und das Gefühl haben: „Alles geht den Bach runter.“ Viele von ihnen haben zudem das Gefühl, dass sich nur in unserem Bistum die Dinge so dramatisch verändern und es den Bistümern rundherum eigentlich noch total gut geht – aber das stimmt eben nicht. Die Diskussion kommt aber auch daher, dass wir ein junges Bistum sind und vor 60 Jahren zusammengestückelt wurden aus den drei (Erz-)Bistümern Köln, Münster und Paderborn. Gerade ältere Menschen sind immer noch von den Mutterbistümern her geprägt. Letztlich steckt hinter dieser Diskussion aber wohl bei manchem auch der Wunschtraum, dass es so wird, wie es früher einmal war. Doch die Veränderungen sind nicht nur im Bistum Essen spürbar. Wir sind in einer Entwicklung, in der wir als Kirche insgesamt kleiner werden, und in einer Gesellschaft, in der die volkskirchliche Form so, wie wir sie kannten, einfach keine Zukunft mehr hat.

Aber die Menschen, die darunter leiden, muss man ja auch verstehen…

Klaus Pfeffer: Natürlich, denn diese Entwicklung ist ja auch schwer zu akzeptieren, weil sie vieles in Frage stellt. Das kann ich sehr, sehr gut verstehen. Ich weiß, dass es bei manchen noch diesen Traum gibt: Wenn wir jetzt zurück zu den anderen Bistümern kämen, dann würde vielleicht doch alles nicht so schlimm oder noch einmal so werden, wie es einmal war. Das ist aber eine Illusion, vor der ich immer wieder warne. Ich halte das auch für gefährlich. Weil es uns dazu verleitet, dass wir denken, wir könnten uns der Diskussion über Zukunftsfragen und Pfarreientwicklung entziehen. Das ist wirklich eine Illusion. Und auch die vermeintlich wohlhabenden Bistümer wissen, dass das, was uns hier gerade sehr massiv beschäftigt, auch sie schon jetzt beschäftigt oder in naher Zukunft beschäftigen wird.

Die Situation ist ja überall ähnlich: Wir haben weniger Pries­ter. Wir haben, als Kirche, Probleme damit, die Leute anzusprechen und zu begeistern…

Klaus Pfeffer: Ja, natürlich! Das bekomme ich spätestens dann mit, wenn ich als Generalvikar mit meinen Kollegen aus anderen Bistümern spreche. Es gibt eine ganze Reihe von Diözesen, die ähnliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen haben wie wir – und das sind auch nicht nur die Bistümer in der ostdeutschen Diaspora. Gemeinsam mit der Universität Freiburg untersuchen wir derzeit bundesweit, wie sich die Zahl unserer Kirchenmitglieder und unsere Kirchensteuereinnahmen künftig entwickeln werden. Da wird zum Beispiel deutlich, dass wir in zehn bis 15 Jahren die geburtenstarken Jahrgänge als Kirchensteuerzahler verlieren werden, weil diese dann in den Ruhestand treten. Das ist ein Thema, das die Gesamtgesellschaft betrifft – aber das auch die Kirche noch einmal radikal verändern wird.

Was bedeutet das für die deutsche Kirche und das Bistum?

Klaus Pfeffer: Alle ahnen und wissen: Wir müssen uns jetzt vorbereiten auf eine Zeit, wo unsere finanzielle Situation – aber nicht nur die – sich stark verändert. Die Finanzfrage ist für mich dabei nur ein äußeres Symptom für einen radikalen gesellschaftlichen Wandel, der mit einer Pluralität zu tun hat, wie wir sie vor einigen Jahrzehnten noch gar nicht kannten. Wenn ich in Gemeinden unterwegs bin, erzähle ich immer gerne: Als ich aufgewachsen bin, hatte ich überhaupt keine Wahl, katholisch zu werden! In meiner Familie, in dem Milieu, das mich umgab, war das völlig klar. Ich musste mich damit nicht wirklich auseinandersetzen, ich bin da hineingewachsen. Heute ist das völlig umgekehrt. Wer sich für das Christentum entscheidet, muss das begründet tun – und will dann auch wissen, warum die Frohe Botschaft und die Kirche für ihn und sein Leben gut sind. Doch darauf sind wir als Kirche noch nicht richtig vorbereitet.

Diese Entwicklung war ja seit Jahrzehnten absehbar – gerade auch mit Blick auf die demographische Entwicklung. Und auch mit Blick auf die zunehmende Kirchenferne oder außerkirchliche Religionssuche vieler Menschen. Hat nicht nur das Bistum Essen, sondern auch die deutsche Kirche insgesamt sich zu spät Gedanken gemacht? Lange Zeit herrschte eine Art Wagenburgmentalität nach dem Motto: „Wer nicht zu uns kommt, gehört eben auch nicht zu uns. Den brauchen wir gar nicht. Hauptsache, wir haben die entschiedenen Christen!“

Klaus Pfeffer: Ich finde es schwierig, hier nach Schuldigen zu suchen, denn ich glaube, die Entwicklung ist sehr menschlich. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier – und das trifft uns in der Kirche auf allen Ebenen. Wir kommen aus einer Zeit, die, kirchlich gesehen, auch schön war! Das habe ich als Kind und Jugendlicher ja selbst erlebt. Warum sollte man dies freiwillig in Frage stellen? Da braucht es erst den massiven Druck durch eine radikale Veränderung der Verhältnisse, der uns dazu zwingt, zu handeln. Aber ich gebe Ihnen Recht: Wir hätten vielleicht schon früher mutiger sein können.

Und nun?

Klaus Pfeffer: Die Diskussion ist letztlich müßig. Jede Generation tut das, was sie tun kann. Für Bischof Overbeck und für mich und für viele andere ist jetzt die wichtigste Frage: Wie gelingt es uns, Kirche und Christentum beieinander zu halten, dass wir nicht auseinander fallen, wie wir es in anderen Bereichen der Gesellschaft ja auch schon erleben. Der Tonfall, den ich manchmal in Auseinandersetzungen erlebe, ist von viel Missgunst, Aggressivität und Unterstellungen geprägt. Als würde man glauben, dass der jeweils andere Böses im Schilde führt. Als würde man davon ausgehen, dass nicht jeder das, was er tut, erst einmal aus einer tiefen inneren Überzeugung heraus tut.

Wenn Sie das in Gemeinden erleben – Enttäuschung, Frust, auch Wut, bis hin zu Hass –, wie gehen Sie damit um? Wie versuchen Sie die Menschen mitzunehmen in diesen Prozessen?

Klaus Pfeffer: Ich bin ja erst seit fünf Jahren Generalvikar. Aber Menschen, die schon während der Strukturreform vor zehn Jahren im Generalvikariat gearbeitet haben, sagen mir, dass uns heute viel weniger Aufregung und Unmut erreichen. Ich denke, dass es uns in den vergangenen Jahren auch durch den Dialogprozess gelungen ist, eine große Zahl von Menschen mitzunehmen und von der Notwendigkeit von Veränderungen zu überzeugen. Ich nehme viele wahr, die verstanden haben, dass diese Entwicklung in den Grundzügen richtig und notwendig ist. Das macht mir Mut.

Aber den vorhandenen Widerstand kann man ja auch nicht wegdiskutieren…

Klaus Pfeffer: Nein, das will ja auch niemand. Aber der Fokus der Diskussionen ist heute ein anderer als vor zehn Jahren. Der Schwerpunkt des Pfarreientwicklungsprozesses liegt nicht auf den wirtschaftlichen Fragen, sondern auf der inhaltlichen Auseinandersetzung. Wie wollen wir in Zukunft Kirche sein?, lautet die zentrale Frage. Der Rahmen dafür ist unser Zukunftsbild, in das viel von dem eingeflossen ist, was wir im Dialogprozesses erarbeitet haben – auch in unseren Gemeinden. Dieses Zukunftsbild beschreibt eine Grundhaltung von Kirchlichkeit und Christsein, die uns jetzt hilft zu sagen: Wir kürzen nicht einfach alles runter und machen alles kleiner – sondern fragen: Wie möchten wir denn in zehn, 15 Jahren Christsein in dieser Gesellschaft leben? Dabei steckt der eigentliche revolutionäre Kern dieser Frage in der Überlegung, um welche Menschen es dann gehen wird. Die Generation, die derzeit das Leben in unseren Gemeinden prägt, wird dann nur noch eine geringe Rolle spielen. Es muss also dann viel stärker als heute um diejenigen gehen, die in unseren Gemeinden im Moment fast gar nicht vorkommen. Und da frage ich mich schon: Kann es wirklich der Weg sein, alles so zu belassen, wie es ist?

Wie ist denn aus ihrer Sicht die Stimmung aktuell in den Gemeinden?

Klaus Pfeffer: Da erlebe ich eine große Nachdenklichkeit – und Widerstände, die sich schnell relativieren, wenn ich mit den Menschen vor Ort sehr persönlich darüber spreche: Wie wichtig ist uns eigentlich das Christentum? Und was ist es genau, das wir davon in die Zukunft hinüberretten wollen? Wenn die Leute mal etwas aufgebrachter über den Bischof oder das Bistum schimpfen, frage ich zurück: Wie geht es euch denn mit euren eigenen Kindern und Enkeln? Dann sind wir uns schnell einig, dass wir gemeinsam ein Riesenproblem haben: Unsere Art zu glauben und von Gott und Jesus zu sprechen, ist schwer kompatibel mit den nachfolgenden Generationen. Da hilft es nicht, auf „die da oben“ zu schimpfen, sondern nur, dass wir uns gegenseitig eingestehen: Es ist schwierig, und wir sind da alle miteinander ein wenig ratlos. Und wir müssen gemeinsam nach Lösungen suchen. Ich rate den Gemeinden zum Beispiel: Laden Sie die jungen Leute doch einfach mal ein. Oder sprecht mal mit euren eigenen Kindern und Enkelkindern, warum sie die Kirche langweilig finden. Hört zu, was die euch zu sagen haben – und lasst euch davon nachdenklich machen.

Kann und soll das einen Perspektivwechsel auslösen?

Klaus Pfeffer: Mir ist sehr wichtig, diese Themen auf eine solche persönliche Ebene zu holen, damit wir wegkommen von diesen heftigen Auseinandersetzungen um Gebäude. Diese Fragen sind auch wichtig – aber die Kirchengebäude helfen uns nicht weiter, wenn wir uns nicht auch auf einer innerlichen und inhaltlichen Ebene verändern. Wer soll denn in zehn oder 20 Jahren zu uns kommen, wenn es uns nicht gelingt, die jüngeren Generationen und die Menschen, die jetzt viel Abstand zur Kirche haben, zu interessieren und zu faszinieren – und uns umgekehrt von ihnen faszinieren zu lassen?

In der Kirche war es aber auch lange Zeit geradezu verpönt, wirklich über Gott und den eigenen Glauben zu sprechen. Wir haben uns, als Kirche, auf alles Mögliche konzentriert – Strukturen, Finanzen, die soziale Arbeit – und heute kommen die Menschen mit den Anfragen zum Glauben, auch an uns persönlich. Ist die Kirche da zu sprachlos?

Klaus Pfeffer: Wir kommen aus einer Zeit, in der es eher seltsam war, über den eigenen Glauben zu sprechen.  Viele Katholiken waren buchstäblich sprach-los, wenn es um den Glauben ging. Diese Haltung verhindert oft, dass wir tatsächlich miteinander ins Gespräch kommen. Das müssen wir aufbrechen. Denn ich mache auch die Erfahrung: Da, wo Menschen wirklich anfangen, miteinander über ihren Glauben zu sprechen, passiert wirklich etwas! Da entsteht eine Nähe, die die Menschen tief berührt. Viele sagen mir anschließend: „Warum machen wir das eigentlich nicht öfter?“

Und – warum machen wir das nicht?

Klaus Pfeffer: Ich glaube, es wird in Zukunft noch wichtiger, Gläubige zu ermutigen, zu ihrem Glauben zu stehen und auch im Alltag zu bezeugen: „Ich bin ein Stück Kirche.“ Ich erlebe oft, dass von „der Kirche“ oder „dem Bistum“ gesprochen wird, als wäre das ein fremder Apparat. Dabei sind wir doch gemeinsam Kirche! Eigentlich müsste doch jeder Mensch, der einem Katholiken begegnet, erleben: „Ja, der handelt so freundlich, so gut, so voller Liebe, weil er Christ ist!“

Das Thema Bistumsidentität ist ja ein sehr schwieriges. Es gibt das Bewusstsein für den eigenen Kirchturm. Bei der Identifikation mit dem Bistum wird es schon diffus. Und auf der Straße kann ohnehin keiner mehr was mit dem Begriff „Bistum“ anfangen. Wie will das Bistum es denn schaffen, es gerade auch jüngeren Menschen zu vermitteln, dass es diese Größe Bistum gibt – und dass die auch ihren Wert und Sinn hat? Ganz zu schweigen von der Identifikation damit…

Klaus Pfeffer: Es gibt viele und sehr unterschiedliche Grade von Kirchenzugehörigkeit. Da ist es für mich zum Beispiel auch völlig in Ordnung, wenn mir Katholiken sagen: „Mir ist die Kirche wichtig, ich habe eine Verbundenheit – aber ich brauche sie nur zu bestimmten Gelegenheiten.“ Bistumsidentität ist für mich bei denen wichtig, die zum inneren Kern gehören. Es ist für die Zukunft von Kirche existenziell wichtig, dass wir auch viele Menschen haben, die sehr ernst und sehr verbindlich die Nachfolge Jesu leben. Bei denen ist es mir besonders wichtig, dass sie sich auch mit dem Ruhrbistum verbunden fühlen. Aber die Grund­identität ist: Christ sein! Das ist das Allerwichtigste, auch über Konfessionen hinweg.

Der „normale“ Gläubige identifiziert sich aber nun einmal zuerst mit seinem Kirchturm, seiner Gemeinde…

Klaus Pfeffer: Vielerorts erlebe ich eine Mentalität nach dem Motto: „Meine Kirche – das ist mein kleiner Raum.“ Das kann die Gemeinde sein oder der Verband oder eine Gruppierung. Und dann wird immer mit etwas Argwohn auf die „anderen“ geguckt. Egal wo ich hinkomme – mir sagen eigentlich alle: „Wir sind die Wichtigsten. Sparen ist nötig – aber nur bei den anderen.“ Auch in den Pfarreientwicklungsprozessen sehe ich die Gefahr, dass Menschen, bei denen in den kommenden Jahren irgendwann eine Kirche oder ein Gemeindeheim schließt, sich wirklich als Verlierer fühlen. Kürzlich schrieb mir jemand: „Ich weiß nicht, ob ich in einem Jahr noch meine Gemeinde habe.“ Es ist fatal, wenn es Pfarreien nicht gelingt, auch denjenigen, bei denen künftig ein Gebäude geschlossen wird, das Gefühl zu vermitteln: „Ihr gehört zu uns!“

Welche Konsequenzen müssten die Pfarreien und das Bistum daraus ziehen?

Klaus Pfeffer: Vielleicht bräuchte es noch viel mehr Zuwendung und das Signal: „Wir lassen euch nicht alleine!“ Aber diese Gewinner- und-Verlierer-Mentalität ist gefährlich. Wir müssen auch stärker darüber reden, was es eigentlich bedeutet, wenn Menschen ihre Glaubenspraxis und ihre Zugehörigkeit zur Kirche komplett aufgeben, nur weil sich der gewohnte Kirchen-Standort verändert. Ich habe vor einigen Jahren eine Diskussion mit unterschiedlichen Generationen über die Zukunft der Kirche erlebt. Die Älteren in der Runde kämpften vehement um den Erhalt aller Kirchengebäude, während die Jüngeren sagten, dass die Gebäude überhaupt nicht ihr Thema wären. Wenn sie zur Kirche gingen, würden sie sich einfach einen Ort wählen, der einen für sie besonders ansprechenden Gottesdienst anböte. Und natürlich würden sie die Kirche auch mal wechseln. Das zeigt, wie gravierend die Veränderungen von Generation zu Generation sind.

Haben Sie denn die Generation, die das Bistum noch mit ihren eigenen Händen aufgebaut hat und für den Erhalt der Kirchen kämpft, genügend gesehen und begleitet in den Strukturveränderungsprozessen? Es geht ja hier auch um die Themen Verlust und Trauer und Trauerarbeit…

Klaus Pfeffer: Nun, die Frage der Begleitung ist eine Aufgabe, die wir alle miteinander haben! Wenn jetzt in einer Pfarrei die Entscheidung fällt, dass in den kommenden Jahren dieser oder jener Standort verändert werden muss, dann müssen alle in der Pfarrei gemeinsam schauen, dass diejenigen, die da etwas verlieren, sich nicht als Verlierer fühlen müssen – sondern vielleicht viel stärker den gemeinsamen Gewinn sehen. Dafür brauchen wir noch mehr Aufmerksamkeit – und ganz viel Geduld, um mit den Menschen zu sprechen. Das ist nicht immer leicht, vor allem, wenn einem Wut und Zorn entgegenkommen. Wir werden auch akzeptieren müssen, dass nicht alle den Wandel mitvollziehen können. Umgekehrt gibt es aber eben auch andere Beispiele, wo Menschen sich wirklich verändern und sagen, dass wir einen Gewinn davon haben, wenn wir lernen, über die Kirchtürme hinauszubli­cken.

Sie haben einmal gesagt, sie wünschen sich mehr Mut zu „verrückten“ Ideen. Was ist denn Ihre „verrückteste“ Vision?

Klaus Pfeffer: Vielleicht muss es nicht gleich eine grundlegende Veränderung sein. Aber wenn ich zum Beispiel sehe, was jetzt in unseren Zukunftsbildprojekten passiert, erlebe ich etwas völlig anderes als den Schmerz und die Trauer über den möglichen Verlust von Kirchengebäuden. Da erlebe ich überzeugte und engagierte Chris­ten, die einfach mal Dinge ausprobieren, von denen sie glauben, dass sie unsere Kirche voran bringen – und von denen sie oft schon sehr lange geträumt haben.

Was denn zum Beispiel?

Klaus Pfeffer: Ein schönes Beispiel sind für mich die Segensgottesdienste für Neugeborene. Die sind aus der Idee entstanden, einfach mal auf all jene Leute zuzugehen, die gerade die Geburt eines Kindes erlebt haben. Das wollen wir erst einmal mit ihnen feiern, ihnen den Segen Gottes zusprechen und all das Gute, was wir als Kirche zum Thema „neues Leben schenken“ zu sagen haben. Da erleben wir plötzlich: Die Kirchen sind voll! Natürlich nicht mit der Wirkung, dass die Familien ihre Kinder anschließend auch alle zur Taufe anmelden und ab da dann jeden Sonntag wiederkommen – aber das ist auch nicht das Ziel. Es ist doch wunderbar, dass die, die einen solchen Gottesdienst erleben, einfach froh sind. Die Familien sind wirklich beglückt, wenn ihnen jemand den Segen zuspricht, das sind ganz dichte, sehr berührende Momente. Nicht mehr – und nicht weniger. Traurig finde ich allerdings, dass in unserer Kirche dann sofort einige Bedenkenträger kommen und fragen: Darf denn da jetzt jeder segnen? Warum tauft man die Kinder nicht sofort? Ich hatte auch schon eine Diskussion mit einem Professor, der das alles gefährlich fand. Dann denke ich: „Mensch, lasst uns doch einfach mal was ausprobieren! Wir werden sehen, wohin es uns führt!“

Was wollen Sie noch ausprobieren?

Klaus Pfeffer: Diese positive Aufbruchsstimmung, aber auch manche Diskussionen mit Bedenkenträgern, gibt es bei allen Zukunftsbild-Projekten – zum Beispiel bei der Frage, ob wir Trauungen auch einmal anders denken können als nach unseren bürokratisch-kirchenrechtlichen Regularien, nach dem Motto: „Du kannst nur dort heiraten, wo du auch wohnst.“ Junge Menschen, die heiraten wollen, denken in ganz anderen Dimensionen – und erleben manchmal große Hürden, wenn es um eine katholische Trauung geht. Deshalb haben wir ein Team zusammengestellt, das sich nun um diese jungen Leute kümmert und ihnen einen echten Service anbietet – vom Kontakt zum Pfarrbüro der Wunsch-Kirche bis zur Vermittlung von Priester oder Diakon.

Projekte wie dieses sind im besten Sinne „ver-rückt“, weil wir da ein Stück weit die üblichen Dinge in unserer Kirche verrücken. Ähnlich ist es bei unserem Pop-Kantoren-Projekt. Auch das hat einen großen Wirbel ausgelöst, dabei ist es eine völlig harmlose Geschichte: Wir haben für den Projektzeitraum zwei Musiker eingestellt, die versuchen, eine neue, junge Stilrichtung in unsere Kirchenmusik hineinzubringen. Damit streichen wir nichts aus der bisherigen Kirchenmusik, wollen niemanden angreifen und niemanden in Frage stellen, sondern einfach einen neuen Impuls setzen, der hoffentlich gerade jüngere Leute anspricht. Da sind dann noch die sozial-pas­toralen Zentren, die wir entwickeln, unser Pilgerweg, die ehrenamtlichen Gemeindeleitungs-Teams, die City-Pastoral und…und…und…

Blicken wir auf die Weltkirche: Papst Franziskus fordert eine Kirche der Armen und für die Armen und als Kirche an die Ränder der Gesellschaft zu gehen. Das ist doch fast schon eine Profilbeschreibung des Bistums Essen – oder? Welche Hausaufgaben muss das Ruhrbistum da noch machen?

Klaus Pfeffer: Natürlich bleiben da noch Aufgaben. Gerade was die Aufforderung von Franziskus angeht, an die Ränder zu gehen. Wir tun da schon eine ganze Menge, aber wenn wir alle miteinander sehr ehrlich sind, von den Gemeinden bis hin zu unseren Diözesaninitiativen: Wir sind, wie alle Bistümer in Deutschland, eine bürgerliche Kirche. Da ist sicherlich noch Luft nach oben.

Es ist ein sehr hoher Anspruch, wirklich an die Ränder zu gehen und sich aus den eigenen kirchlichen Bereichen heraus zu entwickeln. Das merke ich selber ja auch, ich bin ja auch ein Kind dieser Kirche und bewege mich so in meinen Welten. Und ich merke, dass es nicht ganz einfach ist, in völlig fremde Welten hineinzugehen. Das heißt, einerseits zu den Armen zu gehen, aber auch in Welten zu gehen, die fern unserer innerkirchlichen Welt stehen. Da werden andere Sprachen gesprochen, da ist anderes wichtiger als bei uns. Ich merke das, wenn ich hier durch die Essener Innenstadt laufe, wo ich ja wohne: Essen und das Ruhrgebiet sind im Verlauf der vergangenen Jahre sehr multi-kulturell geworden.Vieles ist auch mir fremd. Ich habe auch nicht für alles die Ideen, wie wir verwirklichen können, was Franziskus fordert. Aber ich sehe die Gefahr, dass wir schnell auf unsere Institutionen schielen und sagen: „Soll das doch die Caritas machen“. Es ist aber auch ein Anspruch an jeden einzelnen Katholiken, jeden einzelnen Christen, das für sich, in seinem Alltag zu versuchen…

In welche Welten müssten Sie und das Bistum denn gehen? Wo wird eine völlig andere Sprache gesprochen?

Klaus Pfeffer: Ich kann von der Welt sprechen, wo ich herkomme. Ich war ja viele Jahre in der Jugendarbeit aktiv und habe auch heute noch Berührungspunkte damit. Da merke ich selbst in katholischen Schulen, wie weit weg die Schüler dort von dem sind, was mir als Christ und Katholik selbstverständlich ist. Selbst diese Kinder und Jugendlichen können wir nicht mehr einfach in unsere Strukturen integrieren. Da brauchen wir ganz andere Formen von Kirche – so, wie wir es in unseren Jugendzentren und jugendpastoralen Orten ausprobieren. Wenn es um den Kontakt zu anderen Kulturen geht, sind wir als Kirche ja unter anderem in der Flüchtlingshilfe in ganz vielen Initiativen engagiert. Da läuft unglaublich viel segensreiche Arbeit – aber ich weiß auch, dass es für die Betroffenen oft eine Herausforderung ist, sich darauf einzulassen. Das liegt auch an den Widerständen, auf die man stößt, wenn man sich in der eigenen Kirchenwelt zum Anwalt dieser Menschen machen will.

In den Strukturprozessen geht es ganz stark um Finanz- und Gebäudefragen. Wird darüber die spirituelle Erneuerung und Neuevangelisierung, die Franziskus auch von der Kirche fordert – zumal von der in Europa – vergessen? Kommt die Suche nach neuen pastoralen Konzepten zu kurz?

Klaus Pfeffer: Es scheint tatsächlich schwierig zu sein, darüber zu sprechen, wie wir unseren Glauben zeitgemäß zum Ausdruck bringen wollen. Da gibt es viele Tabus, weil irgendwie für alle klar zu sein scheint, wie Beten geht, wie Gottesdienst feiern geht. Weil da vieles sehr ritualisiert ist, ist es schwer, offen darüber zu sprechen, was einem spirituell wirklich gut tut. Aber genau das müssen wir tun! Wir müssen darüber ins Gespräch kommen, ob die Art und Weise, wie wir zum Beispiel Gottesdienst feiern, noch zeitgemäß ist und eine Zukunft hat. Und wenn das nicht mehr so ist, nach neuen Formen suchen.

Was tut sich denn in dem Bereich?

Klaus Pfeffer: Eines unserer Zukunftsbild-Projekte beschäftigt sich mit Rückmeldungen zu Gottesdiensten. Über die Fragen nach der Qualität – zum Beispiel einer Sonntagsmesse – kann dieses Projekt ein Anstoß sein, noch viel grundsätzlicher ins Gespräch zu kommen: Was heißt es eigentlich, zu beten? Was heißt es eigentlich, mit Gott in Verbindung zu kommen? Darüber sprechen wir ja gar nicht. Ganz zu schweigen davon, dass jeder ja auch eine eigene Vorstellung von Gott hat. Wenn es uns gelänge, darüber zu sprechen, würden wir auch neue Formen finden, unseren Glauben auszudrücken und zu feiern. Ich halte das für wichtig, weil viele Menschen, die spirituell auf der Suche sind, überhaupt nicht mehr auf die Idee kommen, dass sie bei uns in der Kirche Antworten, geschweige denn Angebote finden. Sie besuchen dann vielleicht Achtsamkeitskurse oder gehen zur Zen-Meditation. Das ist alles nicht schlecht – aber ich finde es schade, dass wir als Kirche diese Menschen nicht erreichen.

Was muss sich ändern?

Klaus Pfeffer: Ich habe selbst mal ein Achtsamkeits-Seminar besucht und war völlig verblüfft, dass es dort vergleichbare Elemente gibt, die wir in unserer christlichen Tradition haben. Nur die theologisch-religiöse Dimension fällt weg. Die Frage ist also: Warum machen das andere und warum geschieht das nicht in unseren Räumen? Warum gibt es in unseren Gottesdiensten zum Beispiel so wenig Stille? Ich bin vor zwei Jahren zum ersten Mal seit 30 Jahren wieder in Taizé gewesen. Taizé hat mich als Jugendlicher sehr erfüllt und inspiriert. Jetzt war es für mich sehr berührend zu erleben, dass es diese Faszination von Taizé bei der jungen Generation von heute nach wie vor gibt. Und auch mich hat sie sofort wieder gepackt und erfüllt. Da habe ich gedacht: Es wäre so einfach!

Was meinen Sie damit?

Klaus Pfeffer: Frère Roger und die Gemeinschaft von Taizé zeigen, wie man spirituelle Erfahrungen ermöglichen kann, wie man Gottesdienste einfach feiert, mit eingängiger Musik, die die Seele erreicht. Mit reduzierten Worten. Gleichzeitig sind die Gottesdienste dort sehr stark an klassischer Liturgie orientiert. Aber sie sind weniger von Wortfülle geprägt und mehr von Stille, von Tiefgang – und von Herzlichkeit. Das gilt auch für den Kirchenraum. Mir hat ein Bruder erzählt, was Frère Roger damals beim Bau dieser Kirche wichtig war, und das fand ich auch für die Auseinandersetzung um unsere Kirchengebäude wichtig: Frère Roger Schutz hat seinerzeit gesagt: „Eine Kirche muss sein wie ein Wohnzimmer.“ Man muss sich dort wohlfühlen und gerne sein. Deswegen hat man in Taizé einen Teppich in der Kirche, niedrige Decken, viel Holz – und vor allem: Es ist warm. Das hat mich sehr berührt – und ich habe die Idee mal auf unsere Kirchen übertragen… Wohnzimmer? Ich wüsste  nicht, ob wir davon so viele haben …

Wie steht es denn um die Spiritualität? Wo schlägt das spirituelle Herz des Bistums?

Klaus Pfeffer: Wir haben viele spirituelle Orte in unserem Bistum. Die einen sind gerne im Kloster Stiepel. Ich selbst war viele Jahre im Jugendhaus St. Altfrid, und habe erlebt, dass viele Leute gerne zu den Sonntagsgottesdiensten dorthin kommen. Ich helfe manchmal in der Hochschulgemeinde in Bochum aus…es gibt ganz viele kleine Orte, zu denen Leute aus allen Richtungen kommen, die keine Gemeindeanbindung haben. Genauso gilt das für GleisX und für die anderen jugendpastoralen Orte. Das sind kleine spirituelle Oasen. Wir müssen nicht nach großen Zentren suchen, sondern schauen: Wo wächst etwas Kleines, das eine Anziehungskraft hat, weil es eine geistige Tiefe gibt. In unserem Zukunftsbild steht nicht ohne Grund an erster Stelle das Wort „berührt“. Es geht darum, Orte zu schaffen, wo Menschen hingehen und sagen: „Das hat mir heute richtig gutgetan.“

Was sind heute die drei größten Herausforderungen für das Bistum?

Klaus Pfeffer: Die größte Herausforderung ist es, zu einer neuen geistlichen Tiefe zu kommen. Wir müssen Antworten auf die Frage finden: Wer wollen wir als Christen eigentlich sein? Und was ist unsere Überzeugung, unsere Faszination, unsere Botschaft? Ich bin sehr von Dietrich Bonhoeffer inspiriert. Der hat 1944, als er sich Gedanken über die Zukunft der Kirche machte, die Frage formuliert: „WER ist Jesus Christus heute für UNS?“ Das bringt es sehr schön auf den Punkt: Was bedeutet mir Jesus Christus und der Glaube an ihn? Und zwar sehr konkret, für mein Leben.

Und weiter?

Klaus Pfeffer: Das Zweite ist die Herausforderung, dass wir miteinander verstehen lernen, was sich in dieser Gesellschaft verändert hat und verändert. Mir wird immer zu viel geurteilt, wie schlimm es sei, dass sich die Gesellschaft angeblich säkularisiert hat, oder wer wann irgendetwas falsch gemacht hat. Wenn ich verstanden habe, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind, hadere ich nicht mehr damit und kann mich leichter diesen Veränderungen stellen. Und ich kann fragen: Was brauche ich jetzt, wenn ich weiß, dass die Menschen so sind, wie sie sind, und ich sie auch nicht verändern kann? Wir müssen uns davon verabschieden, dass wir die Menschen verändern, damit sie dann so sind, wie sie uns passen. Wenn wir uns darauf einlassen, werden wir auch die Herausforderung bewältigen, neue Ideen zu finden, um unsere Kirche zu gestalten. Dann müssen wir noch nicht einmal eigene Ideen entwickeln – sie wachsen uns gewissermaßen zu, weil wir eben auch selbst anders werden,

Innterview: Hildegard Mathies