Nahe sein in Zeiten vorgeschriebener Distanz
Zehn Tage dauert Italiens landesweite Ausgangssperre bereits. Derweil sucht die Kirche nach Wegen, weiter offen und den Menschen nahe zu sein. Denn die Corona-Krise wird auf die Dauer auch ein Vertrauenstest.
Rom – Der Papst ist von hinten zu sehen. Er erteilt den Segen über dem völlig leeren Petersplatz. – Es war am Sonntagnachmittag, nach dem online aus der Bibliothek übertragenen Mittagsgebet, als das von einem Vatikan-Fotografen geschossene Foto erstmals im Internet auftauchte. So unvermittelt wie später Franziskus vor der Schutzpatronin Roms in Santa Maria Maggiore. Dort, im Stadtteil Esquilin, Roms Chinatown, haben chinesische Ladenbesitzer ihre Geschäfte noch vor den Anweisungen der Behörden geschlossen. Sie wussten offenbar, was bevorstand.
„Ich bin da, bin bei euch“
Von dort fuhr der Papst zur Via del Corso, einer der wichtigsten Einkaufsstraßen Roms. Hier müssen Fußgänger sonst wegen Überfüllung des Gehwegs oft auf die Fahrbahn ausweichen. An diesem Nachmittag ging der Papst, von wenigen Security-Leuten begleitet, einige Dutzend Meter hinkend zur Kirche San Marcello al Corso, um dort vor einem Pestkreuz zu beten. Skurrile Szenen in der gespenstisch leeren Ewigen Stadt.
Seit hier erstmals nach dem Ende der Christenverfolgung im 4. Jahrhundert alle öffentlichen Gottesdienste abgesagt sind, Messen nur im Internet übertragen werden, versucht die Kirche zu zeigen, dass sie trotzdem präsent bleibt. Auch der Papst will zeigen: „Ich bin da, bin bei euch.“
„Mit Jesus wird alles gut“
„Con Gesu andra tutto bene“ – mit Jesus wird alles gut – steht am Eingang der Kirche Santa Maria Regina Pacis a Monte Verde. Im abendlichen Halbdunkel der Kirche sitzen drei Frauen in Bänken verteilt und unterhalten sich, nicht gerade im Flüsterton. Kirche als Treffpunkt, um ungestört zu quatschen. „Pssst“, zischt eine Rosenkranzbeterin und schüttelt den Kopf.
In der Seitenkapelle lässt eine Mutter sich und ihre jugendlichen Söhne – beide schwer tätowiert und mit Baseball-Cap – von einem Priester segnen. „Andate in pace – geht in Frieden“, beendet er die Geste und wendet sich der Sakristei zu.
„Nahe sein in Zeiten vorgeschriebener Distanz“
Am Abend zuvor hatten die Patres in der hell erleuchteten Kirche ihr Abendgebet gesungen – die Kirchentür geöffnet, das Gitter davor aber geschlossen. Niemand soll, angelockt von Licht und Gesang, versucht werden, behördliche Sicherheitsvorgaben zu missachten.
„Nahe sein in Zeiten vorgeschriebener Distanz“ lautet die Devise. Denn wenn schon Lega-Chef Matteo Salvini ankündigt, in der Lombardei „Feldlazarette aufzubauen“, um Kranke zu versorgen, kann eine Kirche, die laut Franziskus wie ein Feldlazarett sein soll, nicht abseits stehen. Der Schock von vergangener Woche, als kurzzeitig alle Kirchen Roms komplett geschlossen werden sollten, sitzt noch tief.
„Antikörpern der Solidarität“
„Die Priester müssen in der ersten Reihe stehen“, schrieb der ägyptische Privatsekretär des Papstes, Yoannis Lahzi Gaid, dieser Tage an befreundete Priester auf WhatsApp. Sein Appell verbreitete sich schnell. „Wir müssen Hausbesuche verstärken, Haus für Haus. Dabei gilt es alle nötigen Maßnahmen zur Verhinderung einer Ansteckung anzuwenden; aber wir dürfen uns nie einschließen und nur zuschauen.“ Und weiter: „Niemals darf es heißen: ‚Ich gehe nicht in die Kirche, weil sie nicht zu mir kam, als ich es nötig hatte.“
Das Coronavirus und seine Folgen müssen auch mit „Antikörpern der Solidarität“ bekämpft werden, fordert Vincenzo Paglia. Der Erzbischof, Präsident der Päpstlichen Akademie für das Leben, warnt angesichts der derzeitigen Ausgangssperren vor „einer Pandemie der Einsamkeit“. Trotz Flashmobs auf Balkonen und von Kindern gemalter Durchhalteparolen – „alles wird gut“, „wir schaffen das“ – an den Fenstern, warnen Psychologen und Seelsorger vor Einsamkeit der Singles und einem Isolationskoller der Familien.
Bibellesung zu Hause mitmachen
Derweil entwickeln junge Römer eigene Ideen. „#Iominonannoio – ich langweile mich nicht“, heißt eine Initiative. In kurzen Videos zeigen Menschen, wie sie sich zu Hause die Zeit vertreiben. Dazwischen freundlich-nachdrückliche Hinweise, die offiziell ausgegebenen Regeln einzuhalten, sowie Angebote von Pfarrgemeinden, das Abendgebet, den Rosenkranz, die Bibellesung zu Hause mitzumachen.
In der Kirche Santa Maria in Trastevere, an Roms ältestem christlichen Gottesdienstort, sitzen abends drei Menschen im halbdunklen Kirchenschiff verteilt. Angestrahlt ist nur eine Christus-Ikone vor dem Hauptaltar; links und rechts davor brennen Kerzen. Ein Priester wischt mit Desinfektionsspray über die Kirchenbank, bietet einer Frau den Platz an und beginnt, sich den Mundschutz zurechtrückend, ein Gespräch mit ihr. Am Ende reicht er ihr ein Gebetszettelchen. Wie viele in Rom, die noch „Kundenkontakt“ haben, trägt auch der Geistliche Latexhandschuhe.
„Urbi et orbi“ vor leerem Petersplatz?
Wie lange all das noch dauern wird, weiß keiner. Vorläufig gelten alle Maßnahmen offiziell bis 3. April. Wahrscheinlich aber wird sich der Papst am Fenster überlegt haben, ob er sein „Urbi et orbi“ zu Ostern auch über einen leeren Petersplatz sagen muss – oder wie eine Alternative aussähe