Als schönste Impfung der Welt bezeichnen Krankenkassen das Küssen. Das Immunsystem werde angekurbelt; Vielküsser lebten länger. Doch je nachdem, wer wen wie küsst, kann der Kuss unterschiedliche Bedeutung haben.
Der Kuss ist eine universale Geste, die über das Menschsein hinausgeht: Nach Ansicht des Verhaltensforschers Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat das gegenseitige Berühren der Lippen seinen Ursprung in der Nachwuchspflege von Menschen und Tieren. Aus dieser friedvollen Eltern-Kind-Beziehung habe er sich zu einem “Zärtlichkeits- und Befriedungsritus” entwickelt. “Die Wurzel des Kusses ist der Sex”, argumentiert dagegen die Bremer Sexualwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld. So “erschnüffelten” Männer, ob eine Frau ihren Eisprung habe – auch wenn das nur unbewusst registriert werde.
Stürmisch, dynamisch oder zögerlich zurückhaltend: Bei einem hingebungsvollen Kuss sind mehr als 30 Gesichtsmuskeln in Bewegung, haben Mediziner herausgefunden. Adrenalin und Glückshormone werden ausgeschüttet, wie die Krankenkasse Barmer am Freitag hervorhob. Allerdings werden auch Bakterien ausgetauscht. Küssen stärke deshalb aber zugleich das Immunsystem und schränke die Produktion von Stresshormonen ein – eine Ermutigung zur zärtlichen Geste auch in Corona-Zeiten, die eigentlich eher auf Abstand setzen.
Platon glaubte, dass sich bei einem Kuss von Mund zu Mund die Seelen berühren. “Um eine Liebe, in der nicht mehr geküsst wird, steht es nicht gut”, schreibt der französische Philosoph Alexandre Lacroix. Im Mittelalter hatte der Kuss auch rechtliche Bedeutung: Er besiegelte einen Vertrag – was sich noch heute im Verlobungs- oder Brautkuss widerspiegelt.
Geküsst wird rund um den Globus. In Westeuropa und Nordamerika gilt es heutzutage meist nicht mehr als anstößig, sich öffentlich zu küssen. Die westliche Kusskultur des 20. Jahrhunderts ist stark vom Kino geprägt. Noch in den 1930er Jahren gab es in Hollywood einen Verhaltenskodex, der in Filmszenen “lustvolle Umarmungen” und “ausgedehnte und wollüstige Kussszenen” verbot. Dennoch galten die Küsse zwischen Vivien Leigh und Clark Gable in “Vom Winde verweht” oder von Deborah Kerr und Burt Lancaster in “Verdammt in alle Ewigkeit” lange als erotischste Küsse aller Zeiten.
Küsse symbolisieren auch Verehrung, Freundschaft und Respekt. Der soziale Wange-an-Wange-Kuss sei in den letzten Jahren mit großem Erfolg aus Frankreich ins restliche Europa exportiert worden, schreibt die britische Soziologin Adrianne Blue in ihrem Buch “Vom Küssen oder Warum wir nicht voneinander lassen können”. Auch in anderen südlichen Ländern ist es üblich, Familienmitglieder und Freunde mit (angedeuteten) Küsschen auf die Wangen zu begrüßen.
Der Kuss kann auch ein Herrschaftssymbol sein: Mit dem Fuß-Kuss verlangten Kaiser und Päpste Unterwerfung. Der Bruderkuss ist eigentlich ein Symbol der Gleichheit. Doch als der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow 1989 SED-Generalsekretär Erich Honecker zum 40. Geburtstag der DDR die Wange zur Begrüßung entgegenhielt, war der Machtkampf zwischen beiden längst entschieden.
Auch in den Religionen hat der Kuss eine große Bedeutung: Im Islam küssen Pilger bei ihrer Mekka-Wallfahrt den Schwarzen Stein der Kaaba. In der katholischen Kirche gehören der Altar-Kuss und der Kuss auf das Evangelienbuch zum Gottesdienst. Im Alten Testament haucht Gott dem Adam Lebensatem ein. Das “Hohelied” jubelt: “Milch und Honig sind unter Deiner Zunge.” Paulus fordert die Christen in Korinth auf: “Grüßt einander mit dem heiligen Kuss.” Aus Sicht der Kirchenoberen übertrieben es die Christen damit freilich, und so sah sich laut dem Philosophen Lacroix Papst Innozenz III. im 13. Jahrhundert gezwungen, den Begrüßungskuss aus Kirchenkreisen zu bannen.